„Wippenwahn“ von Regina Klein

Gunnar hat einen bestimmten Deal mit bestimmten Frauen. Sie sind immer etwas älter als er, ungefähr sieben Jahre. Ihre Brüste so groß wie die seiner Mutter aus der Perspektive des kleinen Jungen, der mit seinen kräftigen Händchen milchwarme Brustwarzen fasst, durch Daumen und Zeigefinger flutschen lässt und ab und an fester zukneift. Seine Mama entzückt, räkelt sich auf diversen Stühlen, im Kinderzimmer, im Kino, Theater, Museum, im Englischen Garten. Wie er diese sonntäglichen Ausgänge liebte. Und während der abendlichen Gutenachtgeschichte, schob er hinderliche Stoffbahnen zur Seite, steckte seinen Kopf unter das Nachtshirt seiner Mama und saugte sich nuckelnd fest. Mit zitternder Stimme las sie ihm weiter vor. Sein Kopf ruhte zwischen Schulterbeuge und den zwei weichsten Softbällen der Welt. Er liebt großbrüstige Frauen. Kleine Frauen, kleiner als er, mit großen, ausladenden Brüsten. Zweipolige, runde Schubladenbälle, die sie vor sich hertragen. Das schaukelnde Wippen, ein sanftes Auf und Ab, so findet er, ist die schönste Bewegung der Welt. Sommer oder auch schon heiße Frühlingstage sind seine Lieblingsjahreszeit. So wie heute, im Café am Marktplatz sitzend, den Stift in der Hand schaut er brustbewegten Frauen in legerer Kleidung entgegen, malt wellenförmige gerundete Kreise mit mittigen Löchern. Sein Blick verliert sich in dem wiegenden Wippen, er übersieht die herannahende, flachbrüstige Kriemhild. „Liebling“, ihre Hand legt sich auf seine Augen: „Kommst du?“ Er schaukelt verwirrt auf dem Stuhl hin und her. Der Kaffeelöffel fällt zu Boden. Kriemhild schiebt ihn mit ihrem Fuß zu sich heran. Er nimmt ihre Hand: „Lass uns gehen, ich zeige Dir was.“ Untergehakt schreitet er mit ihr über den Platz, dem Institutsgebäude entgegen. Es wippt unentwegt.

Kriemhild huscht im flatternden Laborkittel über den Gang. Die Tür von Gunnars Büro ist angelehnt. Ein Bücherstapel klemmt zwischen rechtwinklig offenstehender Tür und dem massiven Eichenholzsekretär, der zwei Drittel des Raumes füllt. Sie zwängt sich an dem ausladenden Regal vorbei, stößt mit der Hüfte gegen den Eichholzbalken mitten im Raum. Vor drei Wochen hatte sie in seinem Arbeitscomputer provokante Bilderreihen gefunden. Hoffentlich hat er sein Passwort nicht geändert. Sie tippt die vertraute Tastenkombination ein, ihre Fingerspitzen hinterlassen feuchte Spuren auf staubklebrigen Tastengrund. Unknown password. Sie schluckt, streift ihre Haare fahrig nach hinten. Wo hat er es diesmal deponiert? Er macht sich immer Notizen, weil er alles vergisst und nur schwarz auf weiß zukunftsträchtige Relevanz hat, so seine gewichtigen Worte am gestrigen Abendtisch und sonst auch. Ihr Blick folgt einer Krümelspur, die von dem rechten Tastenrand zur Teetasse aus Fine Bone China führt. Sie schiebt sie zur Seite, die gallengrüne Flüssigkeit mit flockiger Oberfläche ignorierend. Sie schluckt, ein angebissener fauliger Apfel dient als Beschwerer eines riesigen Zettelhaufens einzelner Papiere, kreuz und quer geschichtet, fast das gesamte obere Drittel seines Sekretärs einnehmend. Sie löst ihre Labormaske, fächert sich Luft zu. Einfach nur mal kurz den Kopf herausstrecken. Der Fensterriegel klemmt, sie reißt daran, das Fenster klappt vor und mit einem lauten Knall landet ein weiterer Papierstoß zu Boden. Der braune Keramiktopf, das wertvolle Geschenk seines geschätzten Mentors, des Institutsgründers Eberwein Faßleiner, welches dieser von seiner spektakulären Exkursion aus Südostafrika mitbrachte, in freien Fall. Ihre Hand schnellt vor und hält. Die darin deponierten Büroklammern kullern durch die Luft, wie eine Invasion feindlicher Kleinkrieger besiedeln sie in Sekundenschnelle Grund und Boden. Mit hochrotem Kopf robbt sie über die Dielen, sammelt die stählerne Soldatentruppe auf und sperrt sie wieder ein. Metall klimpert an Ton und da liegen sie verkreuzt über Reih und Glied.

Damals war Faßleiners sensationeller semipolitischer Vermittlungsakt zwischen den befeindeten Stämmen der mächtigen Tutsi und den marginalisierten Bodi durch alle akademischen Medien gegangen. Hauptsächlich sein Gespräch unter vier Augen mit dem Warlord, der daraufhin an allen Interventionen Faßleiners teilnahm, während dieser nicht von seiner Seite wich und dessen Wandlung von einem respekteinflößenden Herrscher einer kleinen südwestafrikanischen Stammeskolonie zu einem respektausteilenden Mitglied der europäischen BioEPIG-Invest langsam Gestalt annahm. Die ethnisch-korrektive Großgruppenmethode, so Faßleiner in seinem Vortrag an dem von ihm neugegründeten Bioepigenetisch-Postkolonial-Anthropozentrischen Institut der Wiener Universität (kurz: BIPOAZ) schafft es, unterhalb des dominierenden Sprachcodes laufende Konfliktprozesse in seine genetischen Bestandteile zu zerlegen und mittels rassistischer Faktorenanalyse genau zu vermessen. Und nicht nur das, sondern auch daraus völlig neue hybride Crossfertilisationen im politisch-korrekten Neusprech zu kreieren. Es ist das innovativste biopolitische Instrument der Zukunft, besonders bei Strategien zur Eindämmung völkerwandergleicher Pandemien durch RNA-Messenger-Mutanten. Seitdem zwurbeln unten im Labor in 1000enden von Reagenzgläsern solche hybriden Genmixturen. Während des gesamten Abends war Gunnar immer wieder in ihr Gesichtsfeld gerutscht und dort hängengeblieben. Er trug die gegerbte Felltasche Faßleiners und seine Basttücher. Dies alles tat er mit einer impulsiven Mischung aus Servilität und Arroganz. Raumschreitend gewann er ihre bis heute währende unteilbare Aufmerksamkeit.

Sie zupft sich Staubflusen von Knie und Kleid. Es sind noch zwanzig Minuten, bevor die Verabschiedung beginnt. Wo nur hält er das Password versteckt? Sie hebt Faßleiners Kultbuch hoch, von Klebezetteln verdeckt das eindrückliche Porträt des Autors, darauf in Gunnars Krakelschrift: You can! Sekundenspäter öffnet sich die Tür seines sorgfältig abgeschirmten Reichs. Sie erspäht ‚Unentdeckte Meisterwerke‘ neben ‚Bioepigenetischer Impressionismus‘ und einen bisher ihr unbekannten Ordner mit dem vielversprechenden Namen ‚WAHNW‘. Siegesgewiss fährt sie mit der Maus darauf zu, der dunkle Monitor wippt langsam auf.

Zur Verabschiedung am heutigen Abend wählt Gunnar sein schönstes Jackett, das graue mit abgesetzten Nähten. Mit dieser letzten Ehrung seines wissenschaftlichen Mentors, endet endlich sein repräsentatives Kronprinzentum. Er steckt die gelbe Nelke in die Brusttasche. Als er seine Hose zuknöpft, streckt er sein Rückgrat. Sein Zopf am Hinterkopf wippt, pulst, öffnet sich. Das nun feuchte Seidentuch steckt er zur Nelke. Mit klebrigen Fingern glättet er seinen Scheitel, knotet das Gummi am Haarzopf fest.

Kriemhild kommt auf leisen Sohlen herein. Wie dünn und grazil sie ist, in ihrem schwarzen Etuikleid. Den Kopf leicht geschrägt, dass Kinn vorgereckt, bereit jeden Kuckuck aus dem Nest zu stoßen. Die Arme vor die schmale Hühnerbrust geschlagen, steht sie vor ihm: „Gehen wir?“ Daumen an Mund, es riecht nach Mann, er nimmt ihre Hand.


Regina Klein, 1959 im Hessischen Hinterland geboren, 2 Kinder, ist promovierte Kulturwissenschaftlerin, Schreibcoach und Psychotherapeutin. Sie lebt und arbeitet in freier (Schreib)Praxis in Klagenfurt.
Über verschiedenste berufsbiografische Stationen hinweg, wie Vorschule, Jugend-, Familien-, Drogenberatung (1983 – 1998), Professur der Soziologie an der FH Kärnten (2004 – 2020), verschiedene Universitätslektorate und -forschungsprojekte (1995 – heute) sowie Gruppen- und Einzelpsychotherapie (seit 2021), verbindet sie aktuell in ko-kreativen Workshopformaten szenische, performative, biographische und (auto-) ethnographische Elemente. Ihr Hauptinteresse gilt dabei dem Zusammenspiel von Mensch und Kultur: Wie kommt die Kultur in den Menschen und was macht dieser daraus? Besonders schreibend. Besonders in Gesellschaft mit anderen. Besonders in Grenzsituationen. Schreibend bewegt sie sich auf fragilem Grund, auf der steten Suche nach Verortung und Wortung. Verschiedene Veröffentlichungen, wie Essays, Kurzgeschichten, -dramen und wissenschaftliche Publikationen. Derzeit arbeitet sie an einem Roman.

Foto: Sebastian Grayer

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