1. Platz WortReich 2019: „Der blinde Blick“

Text: eingereicht von Monika Buschey für den Kurzgeschichtenwettbewerb WortReich 2019 | 29.11.2019

Die Leute bedauern ihn: Ein Maler und blind. Wo einer wie er doch nichts dringender braucht als sein Augenlicht! Er selbst erträgt den Verlust ohne Angst. Schicht um Schicht haben sich ihm Schatten über die Augen gelegt. Die Konturen lösten sich auf. Lange war ihm das Gespür für Licht geblieben: Ein rötlicher Schein, sobald er das Gesicht der Sonne entgegenhielt.

Seit er blind ist, liebt er den Sommer. Wo viel Licht ist und Wärme, fällt es ihm leichter, sich weiterhin als Teil der Welt zu begreifen. Der Geruch der Haut, wenn sie von Sonnenlicht beschienen wird, umgibt ihn wie ein Mantel, der die Blöße seiner Blindheit deckt. Noch bis vor kurzem hat er den Jungen, der ihn führt, immer wieder einmal gebeten, ihm die Farbreste im Atelier unter die Nase zu halten. Weiß. Gelb. Ocker. Er hat versucht, die Zusammensetzung allein über den Geruch zu bestimmen. Das Erdige. Die stechenden Ammoniak-Töne. Gelb? Rostrot? Purpurlaus? Der Junge hatte zustimmend gebrummt, was immer er sagte. Und also traute er ihm nicht. Der Kleine hatte keine Geduld mit seinem gebrechlichen Onkel. Er war ein spätes Kind seiner Schwester. Maria war mit dem Jungen zu ihm gezogen in sein großes Haus nach dem Tod ihres Mannes. Dem jüngsten Sohn hatte sie den Namen ihres Bruders gegeben: Piero. Piero ist nun der, der ihn führt. Der kleine Piero führt den großen.  Er hört Schritte, dann ein scharfes Geräusch. Er sitzt an die Hauswand gelehnt. Wenn die Tür geöffnet wird, ist da ein Sog, als wollte das Haus ihn zu sich hinein ziehen. Maria hält ein Papier in der Hand, er kann das Rascheln hören.
Schlechte Nachricht, sagt sie, der Priester in Monterchi…

Gestorben vor ein paar Tagen, das weiß er doch. Das gesprochene Wort ist der Schrift vorausgeeilt und hat den Blinden längst erreicht. Später beim Essen erwähnt er, dass er gerne noch einmal dorthin möchte, nach Monterchi. Nicht der Priester, nein. Das Bild. Das Fresko, das er für die kleine Kirche gemalt hat, als seine Mutter starb. Er möchte ein letztes Mal da sein, wo dieses Bildnis ist: Eine Madonna. Eine schwangere Madonna.

Maria seufzt. Zu schwierig, zu gefährlich. Er weiß das ja. Wie soll man ihn, den Blinden, befördern. Einer müsste das Pferd führen, das ihn trägt, für eine Wegstrecke würde man womöglich den ganzen Tag brauchen. Maria steht auf, er hört den Stuhl rücken, sie geht hinüber zum Herd. Der Junge, neben ihm auf der Bank, legt den Löffel in den Teller und dem Onkel die Hand auf den Arm.

Am längsten Tag des Jahres brechen sie auf noch bevor ein Sonnenstrahl über dem Berg erscheint. Der Junge hat alles vorbereitet. Sie würden zurück sein, sobald es wieder dunkel wird. Ohne Mühe steigt der Maler in den Sattel. Der Junge nimmt die Zügel. Steil führt der schmale Weg auf den breiten zu.
Es wird schon hell, sagt der Junge.
Tatsächlich zittert die Luft vom Jubel der Vögel.
Der Maler hat kein Gefühl mehr für den Weg. Es hätte irgendwo hin gehen können.
Ein schwüler Tag. Staub und Hitze. Sie ertragen es schweigend.
Ich sehe den Ort, sagt der Junge und streckt den Arm aus, ich sehe den Turm!

In der Kirche bleibt der Maler allein. Der Junge holt Wasser, kümmert sich um das Pferd. Gegrüßet seiest du Maria, voll der Gnaden. Viele hunderte Mal hat er die Worte von den Lippen seiner Mutter abgelesen. Die Proportionen des Raumes sind ihm auch nach so vielen Jahren noch beglückend vertraut. Eintretenden, wie er weiß, steht die Madonna genau gegenüber. Von rechts wie von links kommt Licht herein. Er kann es spüren.

Er macht einen Schritt auf die Wand zu. Ein Stuhl kippt um, er stellt ihn wieder auf, er tastet sich voran. Schiebt die Stühle beiseite. Erreicht die Wand. Legt die Fingerspitzen beider Hände dahin, wo er ihr Gesicht weiß. Auf der rechten Seite spürt er die raue Stelle auf der Wand, handtellergroß. Für das Mariengewand hat das Blau, das er vorbereitet hatte, gerade eben ausgereicht. Eine Schwangere darzustellen war nicht sein Vorsatz gewesen. Es ergab sich so unter der Hand.

Weiter unten, seine Hände ertasten sich den Weg, da wo der Rocksaum auf die Füße stößt, die tiefe Kerbe in der Wand, die er im Kontrast zwischen Kleid und Hintergrund hat verschwinden lassen. Den Händen jedoch bleibt nicht verborgen, was das Auge übersieht. Das ganze Wandbild nehmen sie sich vor, erspüren das Glatte, das Raue, die stumpf-matten Stellen und die, die matt glänzen.

Der Maler, als er noch zu den Sehenden gehörte, hatte die Wand einst genauso abgetastet, bevor er sie zu bearbeiten begann. Seine Hände erinnern sich jetzt. Haarfeine Risse spüren sie auf. Unebenheiten. Dick aufgetragene Farbe. Damals war es wichtig, die Beschaffenheit der Wand zu prüfen, um die Farben, die Werkzeuge, darauf abzustimmen.
Seit die Dunkelheit um ihn undurchdringlich geworden ist, weiß er sich dem Tod so bedrückend nah, dass es ihm ein Bedürfnis ist, mit inneren Augen anzusehen, was er hinterlässt. Sehend gemacht für das Bild, auf das am wenigstens zu verzichten wäre, hat ihn erst die Blindheit: Die Madonna del parto, wie sie sie genannt haben, in der Kirche von Monterchi, die junge Frau mit dem schweren Leib und der einen Hand an der Hüfte, während die Finger der anderen einen schmalen Spalt im Gewand öffnen.

Der Junge, als er in den Kirchenraum tritt, muss die Augen erst an das schwache Licht gewöhnen, sieht den Blinden zunächst nicht, sieht ihn dann am Boden liegen, erschrickt, hilft ihm auf.
Sie sind längst mehr als eine Stunde unterwegs Richtung Heimat, da fragt der Onkel plötzlich, ob sie ihm gefalle. Der Junge stutzt, dann fällt ihm ein, dass der Maler die Madonna meinen könnte. Gut, sagt er schnell, damit das Fragen rasch ein Ende hätte, sie gefällt mir gut. Ob er auf ihre Augen geachtet habe, fragt der Onkel weiter. Als der Junge nicht antwortet, wiederholt er die Frage nicht.

Im Herbst desselben Jahres wird der Maler zu Grabe getragen. Den Jungen zieht es immer wieder zum Kirchhof. Stundenlang steht er da, zündet Lichter an, wartet, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Seine Mutter schüttelt den Kopf darüber: Ein Maler ist da, wo seine Bilder sind, sagt sie.
Der Junge wartet den Winter ab. An einem hellen Tag im März macht er sich auf. In der Kirche trifft er auf zwei Frauen, die der Gottesmutter blühende Pflaumenzweige gebracht haben. Sie beten und singen leise, während der kleine Piero neben der Tür stehen bleibt, verlegen, die Augen auf das Fresko gerichtet. Sein Blick ertastet die Umrisse, verharrt dann auf ihrem Gesicht. Die Madonna hält den Blick gesenkt. Piero ist ernsthaft darauf gefasst, dass ihre Lider sich jeden Augenblick heben könnten. Ob der Maler etwas zu sagen gewusst hätte über die Farbe ihrer Augen?

Sie müssten braun sein, flüstert der Junge, ich glaube, sie sind braun.

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