WortReich 2024 Platz 3
Lucys Licht
Ralf Gerhardt
Eben beim Zähneputzen war ich noch überzeugt. Von meinem Durchbruch heute. Dass sich Möglichkeiten ergeben würden. Zwingend. Weil ich es kann.
Aber nun bin ich zu spät dran. Wieder mal. Fuck.
Ich trete kräftiger. Schneller. Umkurve Scherben und Müll. Gestern war Weiberfastnacht.
Als ich auf meine Laterne vor dem Kursgebäude zurolle, stehe ich schon auf einem Pedal. Fummele noch schnell das Handy aus der Hose.
Ich bin doch gut in der Zeit.
Bei mir kann man nie wissen.
Die rote 19 glänzt nach wie vor. Irgendwer hat sie auf den Mast gemalt. Seit drei Tagen überlege ich, warum. Mein Alter. Aber wahrscheinlich nichts als eine Zahl.
„Lucy, warum steht das da?“
Die Laterne schweigt.
Ich schlinge meine Fahrradkette um sie.
Lucy hat mir das Glück gebracht. Uns. Deswegen rede ich mit ihr.
Wir waren damals hier in der Nähe. Mio und ich. Kamen von einer Probe unseres Jugendtheaters. Ich, der Regieassistent. Und er. Nicht nur der beste Schauspieler von allen, sondern auch schon ein richtiger Mann. Bart. Haare auf der Brust. Im ersten Semester an der Uni.
Irgendwie stand ich auf ihn.
Was natürlich nur eine meiner Spinnereien sein konnte. Ich war hetero. Habe mein Rad auf dem Rückweg immer nur ein Stück geschoben, weil wir in dieselbe Richtung mussten. Und ich mich ein bisschen mit ihm anfreunden wollte.
Doch an diesem Tag habe ich die fünf Finger meiner freien Hand ohne Vorwarnung in seinen Arm gekrallt. Mich an ihn geworfen. Sogar meine Wange auf seine Schulter. Damit er mich rettet.
Es waren nämlich sämtliche Lichter ausgegangen. Klack und finster. Ganz plötzlich. Schaufenster, Leuchtreklamen, Straßenlampen – alles weg. Häuser, die Straße und wir selbst – so gut wie unsichtbar.
Natürlich habe ich Mio nach dem ersten Schreck sofort wieder losgelassen.
Doch er hat nach meiner Hand getastet. Sie vorsichtig umfasst. Festgehalten. Gestreichelt.
Mir lief der Schweiß. Mitten im Februar.
Als wir zur Lampe kamen, die heute Lucy ist, hat er sich vor mich gedreht. Meine Hand weiter in seiner.
„Stell mal das blöde Fahrrad weg.“
Dann kam sein Gesicht auf meins zu. Immer näher. Sein Mund. Seine Lippen. Mit all den wunderbaren Stoppeln drumherum. In erster Linie habe ich das gespürt. Aber ich konnte es auch sehen. Weil ich ins Dunkel geblinzelt habe.
Dann klack und wieder hell. Strahlend.
Ich bin einen halben Schritt nach hinten gefallen. Als ob Licht schubsen könnte.
Mio hat sich nicht geregt. Mich einfach nur angeguckt.
Da wollte ich es unbedingt. Egal, dass es nicht mehr finster und ich gar nicht schwul war.
Zwei Jahre ist das jetzt her. Seitdem sind wir ein Paar. Und Lucy hat einen Namen.
Ich denke an Mio, als ich zum Kursgebäude gehe. Er hat mich überredet, hier mitzumachen.
Kurz vorm Eingang bin ich mir nicht mehr sicher, ob das Schloss richtig zu ist. Ich drehe um.
Ist es.
Wieder zurück.
Das Seminar soll mir helfen, mich zu entscheiden. Was ich nach dem Abi machen will. Arzt wie Papa, Journalismus wie Mama. Oder Schriftsteller wie keiner.
Ingrit Roebekhamp könnte dieses Defizit ausgleichen. Ingrit mit T. Der Rest mit Oe und H. Lässige Blusen. Große, grüne Ohrringe. Haare halblang. Seitenscheitel. Fast so wie meine. Ihre sind etwas dunkler.
Ich habe ihre elf Romane verschlungen. Alle. Fand sie super. Aber Ein unvollständiger Mann war mein Erwachen. Als Geschichtenjunkie. Potenzieller Schriftsteller. Als männliches Wesen.
Nach dem letzten Satz habe ich direkt wieder vorne angefangen. Und Strichliste geführt. Dreiundzwanzigmal laut gelacht. Zwölfmal geweint. Achtzehnmal masturbiert.
Beim zweiten Lesen!
Nun darf ich bei ihr herausfinden, ob ich schreiben kann. Gut genug bin. Creative Writing. Sie macht das, um zukünftige Bestseller-Autoren zu entdecken, sagt sie. Die besten drei von uns wird sie ihrem Verleger vorstellen.
Falls das klappt, hat es eine Menge Geld gekostet. Wenn nicht, sind eineinhalbtausend Euro weg.
Die Hälfte davon ist verbraucht. Zwei Wochen sind um.
Wir hüpfen jetzt von der Theorie zur Umsetzung. Ingrit will einen literarischen Text über Mentoren. Vielleicht sogar über Vorbilder.
Nächste Woche beginnt das betreute Schreiben. So nennt sie das.
Heute sollen wir ihr unser Thema nennen.
Ich bin aufgeregt. Weil ich meine Idee super finde. Außergewöhnlich. Und weil mir ihr Lob peinlich sein wird.
Ich kriege sogar ein bisschen Atemnot. Mein Blick verschwimmt.
Aber dann ist es geschafft. Ich kann sie wieder fokussieren.
Und erkenne erschrocken, es wird keine Hymne.
„Von Laternen lernen? Ernsthaft?“
Ingrit kommt auf meinen Tisch zu.
„Die liefern Platz für angeklebte Botschaften. Sie stützen Betrunkene. Sind Spotlights für Verliebte. Und machen keinen Blödsinn. Sind verlässlich.“
Ich stammele wiederholte Argumente. Weise nochmals auf das Problem menschlicher Ratgeber hin. Jeder habe doch ein wenig Dreck am Stecken. Balsamico-Spritzer auf der weißen Weste. Kratzer im Lack. Rosinen im Müsli. So etwas halt.
Sie steht jetzt vor mir. Überragt mich.
Ich werde mir die Top Drei von unten ansehen müssen.
So viel ist klar.
„Deine Sprachbilder sind altbacken. Außer das mit dem Müsli. Aber das stimmt nicht. Es ist zumindest unscharf. Ich zum Beispiel liebe Rosinen.“
Ich entschuldige mich.
„Weißt du, du musst dich hier nicht schlauer oder origineller stellen als du bist.“
Ihr Blick fällt auf mich herab wie ein Wasserfall ins Becken.
Ich denke noch, dass ich die Formulierung mag. Sich schlau stellen. Dann verwirbeln Gedanken zu Gischt. Flutet Verletzung meinen Körper. Wandelt sich Seele in einen Strudel aus Matsch und Wasser.
Selbst als die Sitzung endlich vorbei ist, bleibe ich stumm. Frage mich bei jeder Treppenstufe nach unten, ob meine Knie dem Druck standhalten.
Auf den Metern zu meinem Rad überfällt mich der Eindruck, dass das Bild auch hier nicht stimmt. Dass irgendetwas fehlt. War ja klar, denke ich. Auf Scheiße folgt ein zweiter Haufen.
Ich nähere mich. Versuche zu verstehen. Starre.
Überlege.
Dann erkenne ich. Beginne nach Luft zu schnappen. Wie ein Ertrinkender, der Glück gehabt hat. Werfe die Arme hoch. Pruste. Lache. Wische mir Tränen weg.
Und kann nicht aufhören zu kichern.
Mein Fahrrad steht noch genau da, wo ich es angeschlossen habe. Die Kette ist dran. Alles in Ordnung.
Doch die Laterne ist weg. Lucy.
Als hätten Erde und Mond die Rollen getauscht.
Ich sinke glucksend auf den Boden. Neben mein Rad. Vor das Loch, in dem der Mast gesteckt hat.
„Nimm es nicht so schwer“, höre ich Ingrit Roebekhamp. Sie muss sich von hinten genähert haben.
„Die Lampe ist davongerannt. Hat das Schloss hiergelassen“, kichere ich über meine Schulter.
„Quatsch“, erläutert sie. „Die müssen jedes Jahr ein paar von den Dingern abbauen, damit der Rosenmontagszug durchpasst.“
Ich drehe den Kopf. Gucke hoch.
Mein gleichgültiges „Aha“ prallt in ihr Gesicht. Wie eine Fontäne. Kraftvoll von unten.
Sie wirkt beleidigt. Verzieht die Brauen. Lässt Scheitel und Ohrringe verrutschen.
Ich fixiere ihre Augen. Grinse. Und weiß, was ich werde.
Ralf Gerhardt veröffentlicht Kurzgeschichten, Lautlese-Lyrikhäppchen und eine Talk-Kolumne, zum Teil auf seiner Website. Sein Roman EIN UNVOLLSTÄNDIGER MANN ist im Mai erschienen.
Bevor er sich hauptberuflich dem Schreiben widmete Stationen bei Walt Disney, ZDF, WDR und anderen Medienunternehmen.
Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, Germanistik und Anglistik.
Mit Mann lebt er in München, ist wegen der Stimmung viel in Köln und wegen der Schönheit im Ausseer Land.
Er bezeichnet sich als überwiegend glücklichen Zeitgenossen, der sportelt, leidenschaftlich redet, CO₂ spart und zu ergründen versucht, wie die Leute so ticken.
Ralf Gerhardt (Platz 3), Christina Müller (Ehrenpreis), Nadja Flickinger (Ehrenpreis),
Franz Brunner (Platz 1), Sigune Schnabel (Platz 2 & Publikumspreis).