WortReich 2024 Platz 2 & Publikumspreis
Leitern
Sigune Schnabel
Herr Franz ist ein Mann, der gern auf Leitern klettert. Deshalb wollte er zur Feuerwehr, aber sie haben ihn abgelehnt. Er sei zu klein, haben sie gesagt. Normalerweise macht er sich nichts daraus. Auch Männer wie er können hoch hinauf. Doch diesmal traf es ihn ins Mark. Es traf ihn genau in dem Moment, als er seinen Wunsch am stärksten verspürte.
Er findet große Freude daran, im Gras zu sitzen und die Vielfalt der Leitern zu betrachten – ihre unterschiedlichen Formen und Materialien. Die zaghafte Bewegung, wenn Füße auf den Sprossen Halt finden, hin und wieder ein Wackeln oder ein Geräusch. Sein Lieblingsmodell ist ausgeprägt robust, lässt sich ausziehen und reicht bis zum Giebel hinauf.
Seine Frau verwendet nur die einfache Haushaltsleiter. Als Hauptverdiener hätte er ihr eine andere gekauft. Er hätte sich nichts von ihr erzählen lassen. Aber Herr Franz ist kein Hauptverdiener. In manchen Dingen ist seine Frau besser als er. Nur seine Größe hat sie nie erreicht. Da kann die Feuerwehr machen, was sie will.
In den vergangenen Wochen hat Herr Franz viel Zeit in der Stadt verbracht und dadurch ein besseres Verständnis dafür entwickelt, wie Menschen funktionieren. Er hat begonnen, die subtile Wechselwirkung zwischen ihnen zu erfassen, auch wenn er nach wie vor Leitern bevorzugt. An manchen Tagen entsteht die Wirklichkeit erst in der Begegnung mit anderen. Das hat er einmal gelesen. Vielleicht ist das zu philosophisch für einen einfachen Handwerker wie ihn, der niemals Feuerwehrmann werden durfte.
Seine Mutter hat ihm oft vorgeworfen, er sei nicht ganz normal. An guten Tagen benutzte sie das Wort „anders“.
Erst, wenn ein Gesprächspartner uns zeigt, dass wir existieren, sind wir real. Vorher sind wir nur ausgedacht, ein Produkt der eigenen Phantasie.
Warum Herr Franz überhaupt geheiratet hat: Genau das ist der Grund. Es ist zwar besser, nicht davon zu sprechen. Über manche Dinge muss man schweigen. Ihm aber gefällt es nicht, wenn Gedanken und Handlungen zu einer bloßen Illusion werden oder noch schlimmer, zu einem Bild. Manchmal sitzt er auf einer Bank und starrt vor sich hin, keine Menschenseele weit und breit. Dann befindet er sich in einem Foto. Alles besteht nur noch aus Farben, und man könnte meinen, als hätte sein Körper einen großen Schritt in ein Blatt Papier getan.
Eigentlich hatte Herr Franz vor, Philosophie zu studieren, um das zu verstehen, aber dafür hätte er das Abitur benötigt. Stattdessen hat er Trude getroffen. Trude sagt ihm, wer er ist. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund. Durch sie ist er zur Realität geworden. Die zukünftige Erinnerung, das Andenken an den Moment, ist in ihrer Gegenwart nicht mehr greifbarer als der Augenblick selbst.
Herr Franz hat sie im Zug kennengelernt. Er fährt nicht gern von seinem Grundstück fort. Manchmal aber führt kein Weg daran vorbei. Zum Beispiel, wenn seine Mutter anruft.
Er stieg also ein. Im Ruheabteil fand er noch einen Platz am Tisch. Widerwillig hängte er den Mantel ans Fenster und machte es sich so gemütlich, wie es in einem Zugabteil möglich ist. Seine Gedanken waren nicht sonderlich intensiv. Er ließ die Landschaft an sich vorüberziehen und beobachtete, wie sie sich bewegte, mal schneller, mal langsamer. Was ihm missfiel, war, dass er die Geschwindigkeit nicht kontrollieren konnte. Es war ähnlich wie später mit Trude – sie ging nicht auf ihn ein. Aber so ist das eben mit solchen Dingen. Bei Leitern ist das anders, ein aktiver Tritt und es entsteht eine wechselseitige Beziehung, eine Verbindung, die der zwischen Menschen überlegen ist. Die Leiter reagiert immer auf ihn.
Am nächsten Bahnhof stieg seine Frau zu. Damals waren sie natürlich noch nicht verheiratet. Sie kannten sich ja nicht. Die Tür zum Waggon öffnete sich, und Trude betrat den Gang. Sie nahm gegenüber von ihm Platz. Da sie sich im Ruheabteil befanden, herrschte Stille zwischen ihnen.
Das ist so eine Sache mit dem Schweigen. Eine Frau, die nichts sagt, ist wie eine Landschaft. Es gibt viel zu entdecken, aber sie löst die Frage nach der Existenz nicht auf. Daher wurde Herr Franz bald müde von ihrer Anwesenheit, genauso wie von dem Anblick der Landschaft draußen.
Ein Mädchen saß am anderen Ende des Ganges dicht am Fenster. Es hielt den Mund vor die Scheibe und pustete. „Ich mache Wolken“, sagte es, und seine Mutter fragte: „Was willst du denn damit?“
Auch Herr Franz wusste nicht, was das Kind mit den Wolken vorhatte. Nach einem trüben Morgen hatte sich endlich die Sonne gezeigt. Trude lächelte das Kind an. Es sprang von seinem Platz auf.
„Dann bin ich eben eine Eisenbahn.“
Herr Franz blieb nichts anderes übrig, als sich an der Unterhaltung zu beteiligen. Das Mädchen war somit schuld, dass sie am Ende doch noch miteinander sprachen, Trude und er.
Inzwischen verbringt Herr Franz viel Zeit im Garten. An manchen Tagen gibt es für seine Augen nichts zu tun. An anderen ist nur er von festem Bestand, während sich alles um ihn herum bewegt. Der Himmel wirkt wie ein großer, blauer Kopf, an dem die Welt hängt, ein Körper, der unermüdlich zappelt. Nicht einmal ein Tausendfüßler hat so viele Gliedmaßen. Aber so ist das eben mit der Welt. Sie kommt selten zur Ruhe. Trude sagt, das sind freundliche, harmlose Tage.
Herr Franz hingegen ist sich im Unklaren darüber, was hinter dieser Fassade steckt. Sie leben an ihm vorbei, diese Tage. Trude auch, doch das ist ein Geheimnis. Sonst lässt sie ihn womöglich im Stich.
Ob ein blauer Kopf harmlos ist, so einer, wie er da oben über der Welt sitzt, hat er sich manchmal gefragt. Solche platten, großen Köpfe hat er sonst nie gesehen. Vielleicht hat Trude in diesem Punkt Recht: Verletzte wehren sich nicht, jedenfalls ab einem gewissen Grad. Ihm würde vermutlich schon ein blaues Auge genügen. Trude sagt, seine Augen sind grün. Wie das Gras.
Die Sonne verträgt er inzwischen nicht mehr gut. Aber nach drinnen kann er nicht. Denn er mag keinen Streit. Streit bringt ihn durcheinander. Handwerk beruhigt ihn. Manchmal bedauert er immer noch, dass er damals aus der Firma ausscheiden musste. Seither ist Trude anders geworden. Herr Franz glaubt, sie zeigt ihm nicht mehr die Wirklichkeit, wenn sie mit ihm spricht. Aber sie sprechen ohnehin nicht mehr viel miteinander. Er weiß, dass das im Moment besser ist.
Sigune Schnabel wurde 1981 in Filderstadt geboren und lebt in Düsseldorf. Sie studierte Literaturübersetzen und hat in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht, z. B. Jahrbuch der Lyrik 2022,2023 und 2024/25, Seitenstechen, Krautgarten, Sprache im technischen Zeitalter, Wortschau und mosaik. In den letzten Jahren hat sie verschiedene Preise gewonnen, u. a. beim Thuner Literaturfestival Literaare und Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis 2017 und beim postpoetry-Wettbewerb 2018. 2022 wurde sie mit dem Wiener Werkstattpreis für Literatur ausgezeichnet. 2022 war sie Finalistin beim Lyrikpreis Meran. 2021 erhielt sie ein Merck-Stipendium der Darmstädter Textwerkstatt und 2023 Arbeitsstipendien der Kunststiftung NRW sowie des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen. 2024 gewann sie den Prosa-Preis der Stadt Bleiburg. Zuletzt erschien ihr Gedichtband Die Zeit hat ihre Farbe verloren im Geest-Verlag (2023). Weitere Einzeltitel: Apfeltage regnen (Geest-Verlag 2017), Spuren vergessener Zweige (Geest-Verlag 2019), Auf Zimmer drei liegt die Sehnsucht (Geest-Verlag 2021).
Ralf Gerhardt (Platz 3), Christina Müller (Ehrenpreis), Nadja Flickinger (Ehrenpreis),
Franz Brunner (Platz 1), Sigune Schnabel (Platz 2 & Publikumspreis).