WortReich 2024 Platz 1

Blaue Haare und Fliegen an der Decke

Franz Brunner

06:35. Für den schmächtigen Zivildiener Philipp fühlt es sich gerade an wie kurz nach Mitternacht. Er macht auch keinerlei Anstalten, das drängende Gähnen zu unterdrücken. Der freiwillige Sanitäter Leo hingegen hat selbst im Ruhestand keine Probleme mit der frühen Morgenstunde, böse Zungen im Freundeskreis attestieren ihm altersadäquate senile Bettflucht. Absolut unheilbar, behaupten sie.

Die Dämmerung kämpft verbissen gegen die Dunkelheit an, beide vermengen sich zu einer grauen Stille. Nebel gesellt sich ungehemmt zum Nieselregen, schmierige glänzende Ahornblätter säumen die Zufahrt zum Krankenhaus. Nichts Außergewöhnliches für einen Montagmorgen eines schier unendlich langen Novembers. Leo schiebt den ersten Patienten des Tages schweigend auf dem Tragsessel zur Dialysestation, Philipp latscht mit verklebten Augenlidern apathisch hinterher. Bis zu 4 Stunden hängt der alte Herr dann am Tropf, drei Mal pro Woche erduldet er diese Prozedur, die er für sein Überleben braucht. Energielose Tristesse umhüllt das Drinnen und Draußen. Hat der Montagmorgen schon im günstigsten Fall nur wenig Freunde, so macht er sich heute besonders unbeliebt.

Zwei jungen Krankenschwestern im klinischen Kochwäsche-Weiß scheint es dennoch zu gelingen, dieser Stimmung zu trotzen. Die Frisur der kleineren hat es leicht, der dominante Farbtupfen in diesem trüben Universum zu sein. Die leuchtend blauen Haare, die schnurgerade bis zu den Schultern hängen, sind keck durchzogen von einem Dutzend oranger Strähnen. Der blonde Pferdeschwanz der größeren der beiden macht seinem Namen in Aussehen und Bewegung alle Ehre. Sie umarmen sich, kichern und lächeln sich dabei fröhlich an.

„Schön, dich zu sehen“, sagt der Blaukopf, der Pferdeschwanz strahlt ein umwerfendes „Ich freu mich auch!“ zurück. Philipps reduzierter Wahrnehmung entgeht dieses Ritual, Leo hingegen ist bereits wach genug, um sich unbekümmert einzubringen. „Ist ja herzzerreißend, sowas mitten in der Nacht zu sehen. Wer hat denn Geburtstag von euch beiden?“ „Keine“, kommt’s prompt aus dem blauen Kopf, „wir drücken uns einfach, um uns einen schönen Tag zu wünschen“. Und dann die verblüffende Frage: „Mechst leicht a amoi?“

Selbst gereifte Sanitäter jenseits der statistischen Lebensmitte sind einer Umarmung durch reizende Damen nicht abgeneigt, doch bevor Leo auf das ungewöhnliche Angebot reagieren kann, ist der Mann in Rot heftig an ihre Brust gedrückt und ihm mit einem beseelten „Ich wünsche dir einen wunderschönen Tag!“ ein solcher bestellt. Philipp schafft es derweilen, seine Augenlider zu heben und das soeben Erlebte mit einem gequälten Grinsen zu quittieren.

11 Stunden und ein knappes Dutzend Patienten später. Leo und Philipp tauschen bereits ihre Vorstellungen aus, wie der Abend nach Dienstschluss verlaufen soll. Der Tag zeigt sich am Ende so, wie er begonnen hatte. Feucht, kühl und grau, so wie es eben häufig um diese Jahreszeit ist. Noch ein letzter Auftrag kurz vor Dienstende. Agnes Z., eine auffallend schlanke Patientin jenseits der 70, erlitt vor wenigen Wochen einen Schlaganfall und ist nach längerem Krankenhausaufenthalt zurück ins Pflegeheim zu bringen. Eine aparte, gepflegte Dame, der großen Catherine Deneuve nicht unähnlich. Nun linksseitig beeinträchtigt und nur mit Unterstützung gehfähig, bedankt sie sich für jede Zuwendung und jede Hilfeleistung überaus höflich. Beim Heimtransport liegt sie im Fond des Rettungswagens am Rücken, starrt konzentriert gegen den weißen Blechhimmel. „Eins, zwei, drei.“ Längere Pause, dann wieder: „Eins, zwei, drei.“ Leo entdeckt keine Fliegen, keine Rostflecken oder sonst was an der Decke, was offensichtlich zählbar wäre. Unterschiedlich lange Pausen, unterschiedliches Tempo. Bei einer Fahrzeit von 15 Minuten wiederholt sich dieser eigenartige Ablauf gefühlte 50-mal. Wenn Leo sich zwischendurch nach ihrem Befinden erkundigt, antwortet sie stets mit einem freundlichen „Danke, junger Mann, mir geht es sehr gut“. Die Dame ist Leo auf Anhieb sympathisch, die hat Format und sieht trotz ihres Alters ohne Brille noch derart gut, um dem erfahrenen Sanitäter treffsicher seine Jugend zu attestieren. Leo grinst und verzichtet wohlweislich auf eine Richtigstellung. Bringt ja nichts, sagt er sich, soll sie das doch glauben.

Im Heim, im vertrauten Zimmer angekommen, wird Agnes, die noch auf der Transportliege festgezurrt ist, von ihrer Pflegerin rührend empfangen. Die beiden strahlen sich an und auf die Frage, wie‘s ihr denn geht, antwortet Agnes mit einem stolzen: „Eins, zwei, drei!“, worauf zwei Augenpaare um die Wette leuchten. „Prima, sie haben das wirklich geübt. Super gemacht. Und was kommt dann, was kommt nach drei?“ Ein leerer, trauriger Blick ist die Antwort. „Vier kommt dann, vier. Aber das üben wir dann morgen.“ Zweifelsohne, die ambitionierte Dame meint das durchaus ernst, das ist ihr anzumerken.

Leo hilft Agnes behutsam, aus der Transportliege aufzustehen, bis sich die beiden an den Händen haltend gegenüberstehen. „Und jetzt machen Sie mit dem Herrn Sanitäter noch ein kleines Tänzchen und drehen sich mit dem Rücken zum Bett.“ Agnes drückt beide Hände unerwartet fest, und mit zaghaften Schritten schafft sie mit leichter Führung durch Leo die 180 Grad-Drehung. Müde lässt sich die erfolgreiche Tänzerin auf der Bettkante nieder. Den Rest überlassen Leo und Philipp dem Pflegepersonal, für die Sanitäter sieht’s endlich nach Feierabend aus, es geht ab nach Hause.

„Was war heute dein nettestes Erlebnis?“ Stets dasselbe Ritual, doch nicht immer weiß Leo sofort eine Antwort, wenn seine Liebste ihn gespannt danach fragt. An diesem Abend scheint’s sehr einfach zu sein. Noch in der roten Uniform drückt er sie an sich und flüstert ihr ins Ohr: „Ich bin einer Fee und einer unglaublichen Kämpferin begegnet, hatte einen wunderbaren Tag. Ich hoffe, du auch.“ Und anstelle langer Erklärungen nimmt er sie an der Hüfte und setzt zu ein paar Walzerschritten an. „Eins, zwei, drei“, begleitet er diese deutlich hörbar mitzählend. Sie lächelt ihn dankbar und stolz an und weiß, er wird’s ihr später erzählen. Am Ende eines langen Tages mit berührenden, unbezahlbaren Lerneinheiten zum Menschsein.


Im historischen Steyr/OÖ geboren, aufgewachsen, ein- und ausgeschult, verheiratet und, und, und …. In 38 Jahren als Lehrer an der HTL Steyr Tausende von Seiten geschrieben, 99% davon technisches Allerlei. Sinniert nun im Ruhestand über Gottes seltsame Welt. Sport, Reisen, Lesen, Kochen und Rettungsdienste liefern reichlich Stoff für skurrile Geschichten. Er ist Gründungsmitglied des Steyrer Schreibzirkels „textQuartett“ und liest auch hin und wieder in Cafes aus seiner umfangreichen Text-Sammlung. Sein erstes Buch „Rund um die Ecken des Lebens“ erschien 2020 im Verlag am Sipbach, mittlerweile sind 10 weitere Bände mit Kurzgeschichten entstanden, einzelne Texte wurden in diversen Anthologien aufgenommen. Der Anspruch des Autors an sich selbst: niveauvolle Unterhaltung mit leichtem Tiefgang. Schmunzeln und Nachdenken unbedingt erlaubt.

Ralf Gerhardt (Platz 3), Christina Müller (Ehrenpreis), Nadja Flickinger (Ehrenpreis),
Franz Brunner (Platz 1), Sigune Schnabel (Platz 2 & Publikumspreis).

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