WortReich 2024 Ehrenpreis
Nach oben
Nadja Flickinger
Nicht nebeneinander. Nicht in dieselbe Richtung. Aber dennoch untrennbar im Ursprung verbunden, wie die Achsen eines Koordinatensystems, vertikal und horizontal, wodurch Dimension erst möglich ist. So sind sie und er – eine Ergänzung. Wie ein Basislager und ein Gipfelkreuz.
Grau kann schön sein. Sanft und weich. Grau ist wie für sie gemacht – farblos zwischen Weiß und Schwarz – wenig Optionen. Das beruhigt sie und hilft ihr, Geduld zu haben, wenn sie auf ihn wartet.
Aber Grau kann auch düster sein. Lichtlos, einsam, ohne Ergänzung. Es gibt kein Komplementär zu Grau. Grau lebt alleine. Es ist eine Nichtfarbe.
Es gibt genau genommen nur zwei Richtungen: waagrecht und senkrecht. Waagrecht bedeutet eben. Nah oder fern. Senkrecht bedeutet steil. Nach oben fliegen oder nach unten fallen.
Sie lebt waagrecht, sieht vor sich den Horizont, diese Trennlinie, die den Himmel oben und die Erde unten hält. Eine Grenze in der Ferne, auf die sie zugeht, wo der Himmel behutsam die Erde berührt. Sie geht langsam, genießt die Reise, hat keine Eile anzukommen. Horizonte sollen weit weg und nicht zum Greifen nahe sein. Sie sollen mit sanften Farben locken, nicht mit dem Ankommen. Die Sehnsucht genügt.
Ganz oben ist sie nie gewesen. Er schon. Er lebt senkrecht und steil. Gipfel, Schnee, Felsen. Über die Grenzen der Angst hinaus. Nur ganz oben ist das Leben intensiv. Die Linie zwischen Himmel und Erde ist für ihn nicht relevant. Für ihn zählt nur das Gipfelkreuz. Sein stürmischer Geist malt knallige Farben in den Himmel auf dem Weg dorthin. Blitzblau, sonnengelb, blutorange. Unerschrocken, unbesiegbar, über sich selbst hinaus.
Sie ist das Basislager zwischen ihm und unendlich. Der Halt, ohne den sein Abenteuer nicht möglich wäre. Dort wartet sie, bis er wieder kommt. Sie braucht kein Synapsenfeuerwerk, keinen Adrenalintreibstoff. Sie liebt sanfte Farben.
Adrenalin ist rot. Wie sein Blut an jenem Tag. Der Schnee taut anfangs wegen der Körperwärme. Dann gefriert er wieder. Der Schnee ist sanft zu ihm, bettet ihn weich, bis er einschläft. Doch die Kälte kriecht weiter in den Körper hinein, hinterlässt eine Botschaft, die sein Blut mit hellem Rot in die Landschaft malt, die sich nicht mehr löschen lässt: Unbesiegbar ist zu Ende.
Die Nachricht erreicht sie am frühen Nachmittag. Die Suche ist bereits angelaufen. Auch heute ist sie sein Basislager, bis er wiederkommt von seinem Abenteuer. Ihr Blick sucht Halt am Horizont. Heute ist er zum Greifen nahe. Aber sie will Horizonte nicht berühren, sie sollen weit weg sein, nicht auf ein Ende hinweisen. Also schließt sie die Augen, umgibt sich mit sanftem Grau und wartet weiter.
Schmerz besteht weder aus Farbe noch aus Licht. Schmerz ist Temperatur. Kalt und heiß. Gefrorenes Blut neben glühendem Lebenswillen.
Gefunden, gerettet, gefangen im Danach. Der Sturz und die Kälte haben ihm viel genommen, aber ihm sein Leben gelassen. Doch die Botschaft bleibt: Fliegen ist unwiederbringlich vorbei. Jetzt ist er senkrecht gefallen und für ihn beginnt eine neue Zeitrechnung. Und alles danach, das ist neu für ihn. Wie sein Grau: Düster, deckend, unbunt.
Ganz unten ist sie nie gewesen. Er schon. Ganz unten ändert sich das Licht. Er kämpft dagegen an, dass seine Welt an Farbe verliert, verbringt viel Zeit damit, zurückzublicken. In seiner Erinnerung gibt es noch Farben, gefangen in Bildern an der Wand. Stumm und eingerahmt, als Schutz vor dem Grau, das allmählich nach innen wächst.
Sein Blick findet keinen Himmel mehr, wenn er nach oben sieht. Keinen Gipfel, kein Adrenalin. Aber er findet etwas anderes: Den Nullpunkt, den Ursprung und die eine horizontale Linie, die oben und unten auseinanderhält. Die Linie, auf der sie lebt und wartet, mit Boden unter den Füßen, mit festem Halt, bis er wiederkommt vom Fliegen oder vom Fallen.
Seinen stürmischen Geist zieht es verlässlich nach oben. Der Weg ist kaum zu sehen. Es gibt nur wenig Licht und es geht mühsam bergauf. Doch er geht mit. Nach oben, wo horizontal Halt gibt und das Grau sanft ist.
Er geht hinauf zu ihr.
geboren am 24.10.1968 in Oberwart/Österreich
Humanistisches Gymnasium in Wien (Schwerpunkt Latein und Altgriechisch)
1986-1992 Studium der Psychologie an der Universität Wien
1992-1995 Studium von Grafik und Design in Florenz
1995-2008 als freischaffende Künstlerin sowie als Psychologin in der Erwachsenenbildung tätig
2006 Buchveröffentlichung „Die Reise des kleinen Königs“ b&m Verlag mit eigenen Illustrationen
2009 Eröffnung einer lerntherapeutischen Praxis
2011-2012 Weiterbildung zur Klinischen- und Gesundheitspsychologin
Seither hauptberuflich als Kinder-, Jugend- und Familienpsychologin tätig
seit 2023 wieder dem Schreiben verfallen
09/2024 mit der Kurzgeschichte „Inselleben“ auf der short list des Mölltaler Geschichtenfestivals und Veröffentlichung in der Anthologie „Jetzt“, pustet-verlag
11/2024Veröffentlichung der Kurzgeschichte „Herbststurm mit Frühlingsgelb“ in der Antholgie „Prosamund“, kroggl-Verlag
Derzeit weitere Kurzgeschichten in Arbeit, ebenso wie ein Jugendbuch „Anna L.Ogg und die Stopptaste“ (Arbeitstitel), eine Geschichte, die u.a. eingebettet ist ins Thema: Umgang mit digitalen Medien und sozialen Netzwerken im Jugendalter und den Auswirkungen auf Freundschaften und Persönlichkeitsentwicklung
verheiratet und Mutter einer mittlerweile erwachsenen Tochter
Ralf Gerhardt (Platz 3), Christina Müller (Ehrenpreis), Nadja Flickinger (Ehrenpreis),
Franz Brunner (Platz 1), Sigune Schnabel (Platz 2 & Publikumspreis).