„Wahnwitz im Monsun“ von Erich Wimmer
Die große Stelle. So nennen mein Fischerkumpel Pavel und ich die schönste und einsamste Stelle des wilden Flusses. Von anderen Fliegenfischern wird dieser Flussabschnitt sogar als Canadian Pool bezeichnet, weil es keinen von ihnen wundern würde, wenn an dieser mit Felsblöcken gespickten Engstelle, vor der sich die Forellen in einer breiten Kehre sammeln, plötzlich Bären auftauchten um zu fischen. Nur ausgewachsene Grizzlys könnten sich in der Strömung um diese Felsen länger als eine Sekunde halten, ohne mitgerissen und fortgespült zu werden. Dass auch immer wieder lebensmüde Paddler zwischen den Kanten dieser schroffen Wände durchreiten, sorgt regelmäßig für Schlagzeilen. Auch überregionale Medien berichten dann von den Kanuten, die gegen die Felsen knallen und trotz Helm das Bewusstsein verlieren, bevor sie von den Wassermassen auf den Grund gemalmt werden. Erst ein paar Kilometer weiter talauswärts, dort, wo der Fluss in den See mündet, spuckt er die Leichen wieder aus und lässt sie friedlich an die Oberfläche steigen, wo sie von den Burschen der Seerettung routiniert geborgen werden.
Zweihundert Höhenmeter über der Großen Stelle stehe ich vor dem geöffneten Kofferraum meines Kombis, den ich am Rand einer Forststraßenkurve geparkt habe. Während sich über mir ein gewaltiges Unwetter zusammenbraut, packe ich ein paar unscheinbare Utensilien zusammen: eine Hundertmeter-Rolle sehr dünne, extra reißfeste Nylonschnur, daran ein solider Angelhaken, eine Packung Maden, zwei dünne Plastiksäcke und ein bulliges Klappmesser. Mehr braucht man nicht, wenn man ohne Lizenz unterwegs ist.
Dann sperre ich das Auto ab, verstaue den Schlüssel in meinem kleinen Rucksack, verlasse die Forststraße und nehme den steilen Abstieg in Angriff. Der Weg, von dem ich mir jeden einzelnen Meter selbst suchen muss, führt durch ein Gewirr aus dürren Büschen und verkrüppelten Buchen bergab. Weil die Neigung des Hangs viel zu steil ist, um gerade hinunter zu steigen, gehe ich in Serpentinen. Wobei ich immer darauf achte, dass Baumstämme oder Sträucher in Griffweite bleiben. Sollte ich hier abrutschen und mich nicht sofort festhalten oder anklammern können, würde ich mit der Geschwindigkeit einer Lawine bis zum Talboden hinunterrasen.
Die ersten fetten Regentropfen zwängen sich durch die Buchenblätter. Möglichst schlechtes Wetter ist die beste Voraussetzung für meine Aktion. Weil mich das bevorstehende Wetter in kürzester Zeit durchnässen wird, habe ich nur feste Bergschuhe, eine kurze Hose und eine dünne Regenjacke angezogen. Alle anderen Menschen, die mit dem Tal verbunden sind, Wanderer, Biker, Fischer und Aufsichtsorgane, haben es entweder schon verlassen oder sind jetzt gerade dabei, so schnell wie möglich zu verschwinden. Niemand außer mir möchte hier sein, wenn das Donnerwetter endgültig losbricht.
Gräser und Büsche triefen schon vor Wasser, Steine und Kiesel bröckeln. Immer wieder muss ich mich an tief hängenden Ästen festhalten, um nicht auszurutschen und in die Tiefe zu poltern. Als ich endlich die Talsohle erreiche und sich die gigantische Flussbiegung vor mir ausbreitet, brülle ich vor Genugtuung, reiße mir den Rucksack von den Schultern und lege ihn auf einen der glitschigen Steine am Ufer. Dann packe ich die Schnurrolle aus, klemme ein Bündel Maden auf den Haken und werfe es mit einer ausladenden Geste so weit wie möglich hinaus in die Strömung. Es dauert keine fünf Sekunden bis sich eine der großen Forellen auf den Köder stürzt. Mit meinem rechten Arm versuche ich die panischen Bewegungen abzufedern, mit denen der Fisch in die Flussmitte flüchtet. Die Forelle ist viel zu kräftig, um sie schnell ans Ufer zu ziehen. Ich muss geduldig sein und warten, bis sie müde wird. Während ich sie an der langen Leine vorsichtig durch die Strömung dirigiere, stehe ich bis zu den Knien im kalten Wasser und erlebe die Donnerschläge des Gewitters wie das Läuten einer gigantischen Himmelsglocke, die nicht Mitternacht, sondern mein letztes Stündlein schlägt. Und wenn schon! Hier und jetzt vom Blitz erschlagen zu werden, während meine Krallen nach dem Leib einer Forelle greifen, ist das Schicksal aller Bären.
Endlich lässt sich der Fisch ans Ufer führen. Ich töte ihn, indem ich ihm den stumpfen Messerrücken ein paar Mal wuchtig auf den Nacken schlage, wate noch einmal zurück ins Wasser und halte den silberglänzenden Fischleib mit der rechten Hand in den grauen Himmel.
„Ich danke euch!“, brülle ich hinauf zu den Göttern, während ich mir mit der linken Hand die nasse Hose herunterziehe und es einfach rinnen lasse. Das kalte Wasser hat meiner Prostata zugesetzt. Den Fisch noch immer über mir und den heißen, erlösenden Harnstrahl vor mir, lalle ich inmitten des mich von allen Seiten umdampfenden Glücks.
Eigentlich müsste ich aus Erfahrung wissen, dass ein solcher Moment äußerster Seligkeit immer schon seinen Umschlagpunkt in sich birgt. Aber es dauert auch diesmal viel zu lang, bis ich die nicht für möglich gehaltene Veränderung registriere. Vor mir, aus der Regengischt, dem Blitzgeflacker und dem Wasserdampf tauchen die Silhouetten zweier Kajaks. Der viel zu späten Stunde und dem bootszermalmenden Monsun zum Trotz haben zwei ganz offensichtlich wahnsinnige Paddelbootfahrer den Wildwasserstrudel an der Großen Stelle bezwungen. Profis, ohne jeden Zweifel. Sonst wären sie unter diesen Umständen niemals heil durch diesen Katarakt gekommen. Während sie im ruhigeren Wasser nach den Stromschnellen auf mich zu paddeln, sind sie ebenso fassungslos wie ich. Sie registrieren meine heruntergelassene Hose und meine Forelle, die ich noch immer in den Himmel halte. Was ich bis jetzt nicht gesehen habe, nun aber eindeutig identifiziere, ist die Helmkamera auf dem Kopf des vorderen Paddlers. Während er mich filmt, sieht er mich an mit einem vor Verwunderung offenen Mund und fragt sich das gleiche wie ich: Was hat jemand bei dem Unwetter an dieser Stelle verloren? Wie verrückt muss jemand sein, um sich bei diesem Starkregen ins Tal zu begeben, anstatt daraus zu flüchten?
„Wer dich nicht wirklich gut kennt, kann dein Gesicht auf dem Video unmöglich identifizieren“, tröstet mich mein Fischerfreund Pavel zwei Tage später. Wir haben uns den kurzen aber eindrucksvollen Film, den der Paddler ins Internet gestellt hat, mehrere Male angesehen. „Was sind schon hundertachtzigtausend Klicks“, fährt Pavel hämisch fort. „Nur wer deinen Penis kennt, könnte dich unter Umständen identifizieren. Aber solche Kenntnisse haben eh nur ganz wenige Frauen … und ein paar Ziegen.“
Nach seiner Schlussfolgerung droht Pavel vor lauter Lachen zusammenzubrechen. Prustend stützt er sich an meiner Schulter ab und klopft sogar ein paar Mal dagegen.
„Ich kann nicht mehr!“, wiehert er ein ums andere Mal und wischt sich vergeblich die Lachtränen aus den Augen. Es kommen viel mehr nach, als sein durchnässter Ärmel aufsaugen kann.
Erich Wimmer ist 1966 in Oberösterreich geboren, absolvierte er die Ausbildung zum Geigenlehrer am Anton-Bruckner-Konservatorium der Stadt Linz und studierte Kunstwissenschaft und Philosophie an der KTU Linz. Seit 1990 lehrt er an den Oberösterreichischen Landesmusikschulen das Fach Violine, seit 1995 ist er als freiberuflicher Schriftsteller tätig. Erich Wimmer wurde bereits mehrmals für sein literarisches Schaffen ausgezeichnet bzw. erhielt Stipendien, wie das Lydia-Eymann-Stipendium in Langenthal bei Zürich, welches auch zu seinem zuletzt erschienen Roman führte – „Die Eimannfrau“.