Geschichte (er)leben

Erscheinungsdatum: 29.05.2019

Raum für Kooperationen zwischen historischer Wissenschaft und erlebter Geschichte.
Ortsgeschichte als Aufgabenfeld für die Bildungs- und Kulturarbeit und Thema bei der Landestagung 2019.

Wo sich Jung und Alt an einen Tisch setzen und über die „gute alte Zeit“ reden, steckt Ortsgeschichte drin. Die unterschiedlichen Wahrnehmungen, Facetten und historischen Entwicklungen des eigenen Ortes bieten viel generationsübergreifenden Gesprächsstoff und beschäftigen nicht nur die Forschung, sondern stoßen vor allem in der Bevölkerung auf großes Interesse. Warum haben sich Dinge im eigenen Ort so entwickelt, wie sie in der Gegenwart wahrgenommen werden? Welche Umstände haben dazu geführt und welche örtlichen Persönlichkeiten könnten einflussreich gewirkt haben? Wie haben sich Mensch, Gesellschaft und Kultur im Laufe der Zeit verändert – und was hat das alles mit einem selbst zu tun? Diese Fragen sind spannend und identitätsstiftend zugleich.

Auch wenn Geschichte im ersten Moment der Wissenschaft vorbehalten scheint, liegt doch ein entscheidendes Potential in der Bevölkerung selbst, welches nicht unterschätzt werden sollte. Schließlich sind Menschen vor Ort DIE Experten*innen für ihr eigenes Lebensumfeld, ihre Geschichten und ihre alltäglichen Erlebnisse. Darüber hinaus haben diese oftmals Zugang zu informellen Akteuren oder Orten, die für ortsfremde Historiker*innen eventuell erst durch Mehraufwand erkenn- und erreichbar sind.

Ortsgeschichte ist daher lebensnah, aber immer auch ein Stück weit subjektiv. Denn hinter jeder Erzählung, hinter jedem Bild, hinter jedem Gebäude, hinter jeglicher Art von Geschichte stecken Menschen mit ihren ganz eigenen Emotionen und Wahrnehmungen. Die Herausforderung: diese subjektiven Wahrnehmungen mit all ihren Facetten für außenstehende oder nicht direkt involvierte Personen anknüpfungsfähig, aber vor allem wissenschaftlich fundiert, nachvollziehbar und reflektiert aufzubereiten.

Räume für Kooperationen:
Die Tagung „ERINNERN und GESTALTEN“

Was es dafür braucht, diese subjektiven Wahrnehmungen aufzuarbeiten, sind anregende Räume für den intergenerationalen Austausch. Es braucht auch eine Möglichkeit der Kooperation und Ergänzung zwischen Wissenschaft und Laientum, welche sich auf ein gemeinsames Ziel verständigt und die jeweiligen Kompetenzen für dieses ergänzend nutzt. Wie eine solche Kooperation in der Praxis aussehen, und wie man Vorhaben im Bereich der Ortsgeschichte umsetzen, aufbereiten und präsentieren kann, wurde bei einer Fachtagung des Kärntner Bildungswerks am 30. März 2019 zum Thema „ERINNERN und GESTALTEN – Ortsgeschichte als Aufgabenfeld der Bildungs- und Kulturarbeit“ bearbeitet.

Als Einstieg in die Thematik erfolgte eine kritische Auseinandersetzung zum Thema Wissenschaft vs. Laientum durch den Geschichts- und Archivwissenschaftler und mehrjährigen Direktor des Kärntner Landesarchivs Wilhelm Wadl mit seinem Vortrag über den „Nutzen der Ortsgeschichte für das Leben“. Johann Hagenhofer, ehemaliger Lehrer für Geschichte, Geographie und politische Bildung sowie Initiator der Errichtung des Zeitgeschichtemuseums in Hochwolkersdorf, beleuchtete praktische Methoden von „Oral History“ und hob die Wichtigkeit der subjektiv erzählten Geschichte hervor.

Methoden-Workshops der Tagung

Workshops und Projektpräsentationen boten anschließend die Möglichkeit, sich in unterschiedlichen Bereichen zu vertiefen und für die eigene Bildungsarbeit in der Gemeinde oder im Verein Inspiration und wichtige Hinweise zu Herangehensweisen, Herausforderungen, Methoden, Präsentationstechniken, Stolpersteinen aber auch Potentialen einzuholen. Die Kombination aus Inputs der Experten*innen und Diskussionen in den jeweiligen Workshop-Gruppen ermöglichte die Sammlung eines beachtlichen Repertoires an Handlungsempfehlungen für Vorhaben in den jeweiligen Spezialbereichen:

Workshop 1:
Zeitzeugen*innen befragen – wie mach ich das und worauf muss ich achten?
(Johann Hagenhofer)

Als erste Herausforderung sah der Leiter des ersten Workshops, Mitarbeiter*innen zu aktivieren. Wichtig dabei: keine Personen übergehen, die bereits in ähnlichen Projekten involviert waren, wie zum Beispiel Heimatforscher*innen, Bürgermeister*innen, Lehrende, Kulturbeauftragte u. ä. Wer Gespräche mit Zeitzeugen*innen ernsthaft durchführen will, braucht auf alle Fälle einen langen Atem. Es sind viele Gespräche mit Dorfansässigen und die Aneignung eines Hintergrundwissens notwendig. Außerdem ist ein sensibler Umgang mit Sprache in Wort und Schrift und Wertschätzung gegenüber den individuellen Erzählungen der befragten Personen unabdingbar. Erlebnisse bleiben emotionsbehaftet und geben somit immer auch ein Stück über die erzählende Person Preis. Daher ist der Aufbau einer Vertrauensbasis vor Interviews Voraussetzung für gelingende Befragungen.

Die Wahl des Themas ist dabei ebenso wichtig wie Methodik und Zielgruppe. Schwere Themen, wie zum Beispiel Kriegsgeschichte in all ihren grausamen Details, ist für Projekte mit Zeitzeugen*innen und Schülern*innen nur begrenzt zu empfehlen. In jedem Fall bedarf es einer ausführlichen Vor- und Nacharbeit sowie fundierten Begleitung mit Platz für Reflexion.
Unbedingt zu vermeiden sind jegliche Formen der Belehrung, Misstrauensbekundungen oder Gespräche, die eher einem Verhör ähneln. Stattdessen brauchen solche Gespräche Zeit, Vertrauen, Flexibilität und von Beginn an eine umfangreiche Dokumentation inklusive Berücksichtigung aktueller Datenschutzrichtlinien.

Workshop 2:
Mehr als ein Kartenwerk! Franziszeische Kataster
(Manuela Maier)

„Der Franziszeische Kataster (benannt nach dem österreichischen Kaiser Franz I.) stellt eine der umfangreichsten Quellen hinsichtlich der Wirtschafts- und Agrarhistorie dar. Zielsetzung war eine umfassende Erhebung von Grund und Boden des österreichischen Kaisertums für eine gleichmäßige Bodenbesteuerung. Die Arbeiten in Kärnten zur Vermessung, Bodenklassifizierung sowie Ertragsschätzung begannen bereits 1813 und zogen sich in unserem Kronland bis 1844 hin.

Obwohl der Franziszeische Kataster primär als Quelle für die Agrarhistorie gesehen wird, verbergen sich in ihm auch andere Zugangsmöglichkeiten, etwa für die Bereiche Kultur- und Alltagsgeschichte sowie der historischen Volkskunde. Zudem stellt er eine ergiebige Quelle für die Haus- und Hofgeschichtsforschung und Ortschroniken dar.“ (Abstract Manuela Maier)

Workshop 3:
Internetportale als Sammel- und Gesprächsorte für alte Fotos, Ansichten und Filme.
(Michael Aichholzer)

Seit einigen Jahren entstehen unter dem Begriff “Bürgerwissenschaft” oder “Citizen Science” immer mehr Onlineportale, die Laien dazu einladen, ihre Beobachtungen und Erkenntnisse zu einem bestimmten Themenfeld zu veröffentlichen und sich darüber auszutauschen. Etliche davon widmen sich geschichtlichen Zugängen, mit denen sich die Tagung “Erinnern und Gestalten” des Kärntner Bildungswerk beschäftigt: Orts- und Regionalgeschichte, aber auch Vereins- und Familiengeschichte. Dabei sind riesige frei verfügbare Materialsammlungen entstanden und zumindest Ansätze einer Diskussionskultur über den Aussagewert dieser Materialien.

Diese Materialsammlungen sind nicht nur ein wichtiger Fundus für Fachwissenschafter,*innen sondern können auch zum Keim eines gemeinsamen örtlichen Bewusstseins werden. Sie sind Inspirationsquelle für Kulturprojekte und ein wirksames Mittel dazu, um die Verbindung mit abgewanderten ehemaligen Ortsbewohnern*innen aufrecht zu erhalten.
Im Workshop wurden mehrere aktuelle Onlineportale vorgestellt und in Bezug auf konkrete Anwenderfragen diskutiert: Ist der Betreiber gemeinnützig und wie stehen die Chancen darauf, dass die Inhalte auf längere Sicht zugänglich bleiben? Entstehen Kosten? Wie attraktiv ist das Portal für jene, mit denen ich mich austauschen möchte? Wie einfach ist der Zugang? Gibt es eine Qualitätssicherung?

Workshop 4:
Was unsere Vulgarnamen und Flurnamen über unsere Vergangenheit erzählen.
(Alois Spitzer, Martina Piko & Vinko Wieser)

In diesem Workshop wurde der Fokus auf die Präsentationsformen und Unterstützungsmöglichkeiten für Vorhaben im Bereich der Vulgar- und Flurnamen gesetzt. Projektergebnisse darzustellen gehört mitunter zu den wichtigsten Aspekten solcher Projekte. Ergebnisse sollten sowohl für die Allgemeinheit gut ersichtlich, verständlich aber auch nachhaltig und langlebig dargestellt werden. Um zusätzlich unterschiedliche Zielgruppen anzusprechen empfiehlt sich eine Vielfalt an Präsentationsformen. Beispiele aus dem Workshop sind:

– Anfertigung von Karten (wie Wanderkarten)
– Elektronische Karten im Internet
– Tonaufnahmen vom Dialektwort
– Tafeln aus Ton oder Holz direkt angebracht
– Haus- und Flurnamen für Straßennamen
– Vorträge in Gemeinden

Unterstützung bzw. Hilfestellungen können in diesem Bereich durch diverse Internetseiten wie zum Beispiel ww.flurnamen.at für Erhebungsbögen und Anleitungen oder Kagis Lang Kärnten, auf der Plattform von UNESCO sowie durch in der Gemeinde vorhandene Kataster und Grundbücher gefunden werden.

Workshop 5:
Ortsgeschichte als Inspirationsquelle für Chor- und Musikkonzerte.
(Hans Hohenwarter)

Chor- und Musikkonzerte bieten allgemein sehr viel Potential, sich mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten auseinanderzusetzen. In Zusammenhang mit Ortsgeschichte lässt sich Geschichte auf ganz besondere – eben musikalische – Art und Weise erleben. Im Workshop 5 wurden Ideen gesammelt, welche Themen für Chorabende interessant wären:

– Erotischer Abend in Lied, Tanz und Kulinarik
– Lieder von der Geburt bis zum Tod
– eine musikalische Reise durch Kärnten
– Handwerkslieder (auf altes Holzwerk bezogen)
– Blumenabend – Chöre mit Blumen im Namen
– Dreiländereck-Singen

Wichtige Überlegungen für die Workshop-Gruppe waren dabei, jeweils passende Bilder zu den Liedern zu finden, Jugendliche mit konkreten Aufgaben einzubinden und gemeinsame Veranstaltungen zu organisieren sowie Ortsgeschichte im Unterricht anzubieten. Schwierig hat die Gruppe die Möglichkeiten in Tourismusorten und Städten gesehen.

Workshop 6:
Gebaute Geschichte am Beispiel von Gebäuden und Kleindenkmälern
(Monika Gschwandner-Elkins & Christine Aldrian-Schneebacher)

„Gebäude spielen eine wichtige Rolle in einem gewachsenen Dorf- oder Stadtgefüge. Sie definieren Straßen und Plätze, sie stiften Identität, sie wecken Erinnerungen, aber sie altern auch.“ (Abstract Christine Aldrian-Schneebacher) Selbiges trifft gleichermaßen auf jegliche Art von Flur- und Kleindenkmälern zu.
Schwerpunkt in diesem Workshop war die nachhaltige Sicherung von Projekten und Denkmälern an sich im Bereich der gebauten Geschichte:

– Gespräche & Austausch in der Familie / im Ort
– Erhaltung: derzeit kaum Unterstützung
– Ortsbesichtigung
– Kooperation mit Professionisten*innen
– Bewusstmachung / Bewusstseinsbildung
– Weitergabe durch Überzeugung
– Aktivierung / involvieren
– Vernetzung Experten*innen / Schule
– Wanderungen

Ortschronisten*innen gesucht!

„Jeder hat eine Fülle interessanter Geschichtsquellen bei sich zu Hause liegen; er muss ihren Wert nur erkennen.“ (Wilhelm Wadl)

Wer sich für das Thema der Ortsgeschichte interessiert, sich von den Workshops inspirieren hat lassen, vielleicht bereits in Projekten mitgearbeitet oder erste Ideen für Vorhaben in diesem Bereich hat und Unterstützung sucht, kann sich unverbindlich mit dem Kärntner Bildungswerk in Verbindung setzen.
Aktuell sind wir dabei, einen Pool an Ortschronisten*innen aufzubauen, diese zu vernetzen und weiters bei Ihrer Arbeit zu unterstützen!

Nähere Informationen:
Michael Aichholzer
T: 0463 / 536-576 21
M: michael.aichholzer@kbw.co.at

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Abstracts Inputs & Workshops

Zusätzliche Veröffentlichung unter erwachsenenbildung.at

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