Ehrenpreis WortReich 2020: Zimmer zweihundertzwölf
Text: Eingereicht von Ines Windheuser für den Kurzgeschichtenwettbewerb WortReich 2020 | 18.12.2020
Es war luxuriös: Das Meer toste heran und wirbelte wieder davon. Henryk beobachtete, wie Sand und Salzwasser durch die Luft geschleudert wurden, als gäbe es zwischen diesen beiden keinen Unterschied – nur noch fliegende Teilchen. Darüber hing der Himmel in einem Grau, das sich kaum noch von dem des Wassers unterschied. Dies alles sah er von seinem Zimmerfenster aus. Diesmal hatte er die Zweihundertzwölf.
Henryk schob seine Teetasse auf die linke Hälfte der Fensterbank und öffnete vorsichtig den rechten Fensterflügel. Er wurde ihm von Wind aus der Hand geschlagen und polterte gegen die Wand. Salzige Luft, vermischt mit Regentropfen, dazu Sand von der äußeren Fensterbank, peitschten ihm ins Gesicht. Kurz genoss er das Eindringen des Draußen, genoss auch, dass es sich nicht bezähmen und dass es keinen Abstand zwischen sich und ihm gelten ließ. Er drückte das Fenster wieder zu und verriegelte es.
Seit zwei Wochen hielt er sich in Nordholland auf und hatte jede Nacht in einem anderen Hotel verbracht. Welchen Sinn hatte das noch? Er nippte an seinem Tee. An der Kopfseite des breiten Bettes hing der überdimensionale Abdruck eines Mohnblumenfeldes. Er war mitsamt seinem Rahmen an die Wand geklebt worden. Es ist doch eine andere Welt geworden, als wir erwartet hatten, Ewa, dachte er.
Wann immer er ihren Namen in Gedanken aussprach, Ewa mit einem weichen W, fühlte er die Entschiedenheit, mit der sie ihm vor 50 Jahren zum ersten Mal die Hand gegeben hatte. Es war hier in Nordholland gewesen. Nur das Abitur und ein paar Mark in der Tasche, waren ein paar Freunde und er in einem Käfer von Köln nach Egmond aan Zee gefahren. Im Auto wurde viel geraucht, viel getrunken und viel diskutiert – insbesondere darüber, wie man es anstellen könnte, dass ein Mädchen einen sofort mochte und man noch am gleichen Abend mit ihr eine Nummer schieben konnte. Erst wollten sie nach Amsterdam, aber jemand hatte den Tipp, die richtig hippen Leute wären in einer Kommune bei Egmond aan Zee. Nach sechs Stunden Autofahrt war Henryk schlecht vom Geschaukel des Wagens, dem Gestank der ungewaschenen Körper seiner Freunde und dem seines eigenen, dem Rauch und den wilden Gesprächen, denen er zwischenzeitlich kaum hatte folgen können.
In Egmond aan Zee stolperten sie aus dem Auto an den Strand. Es gab keine Kommune, dafür aber eine Gruppe junger Leute, die mit Gitarren und Trommeln auf bunten Decken im Sand saßen. Sein bester Freund stellte sie alle ungefragt den Anwesenden vor. Henryk wollte ihn aufhalten. Doch er war zu benommen, um schnell genug zu reagieren.
„Und das hier ist der großartige Henryk. Henryk mit Ypsilon.“
Henryk hasste es, wenn sein Freund auf die polnische Schreibweise seines Namens abhob. Die Sonne schien ihm grell ins Gesicht und er musste mit den Augen kneifen, während er in die Runde schaute. Die Reaktionen der anderen blieben für ihn unsichtbar. Ein Mädchen mit raspelkurz rasiertem, blonden Haar stand mit einer Bierflasche in der linken Hand unvermittelt vor ihm, griff entschieden seine rechte Hand und stellte sich vor: „Ich bin Ewa, Ewa mit W.“ Sie grinste schief. „Ich bin Deutsche, und du?“
„Bin auch Deutscher, mit Ypsilon.“
In seinem Kopf rollte Ewas tiefe Stimme hin und her und die Weichheit mit der sie das W ausgesprochen hatte.
Ewa schlief erst nach fünf Wochen mit ihm. Wenn sie vom Diskutieren, Trinken, in der Sonne liegen und miteinander schlafen völlig übermüdet war und nicht einschlafen konnte, zappelte sie neben ihm herum, schüttelte und hob seine Gliedmaßen an und sagte: „Hausdurchsuchung! Wir haben gehört, hier soll es irgendwo ein Ypsilon geben. Sie sind verpflichtet, es herauszugeben.“ Er wollte Ewa mit nach Hause nehmen. Oder weil die Dinge heute anders liefen, als noch zu Zeiten seiner Eltern, sich notfalls von ihr mit in ein fremdes Zuhause nehmen lassen. Ewa hatte eine Mitfahrgelegenheit an irgendein anderes Meer gefunden. „Ich kann nur am Meer sein. Ich muss in die Ferne sehen können. Alles andere ist mir zu eng.“ Sie wollte nicht, dass er mit ihr mitkam. „Ich mag dich zu sehr, ich brauche Abstand.“
Inzwischen erinnerte er sich nur noch an ihre Worte. Der Klang ihrer Stimme hatte sich mit den Jahrzehnten verflüchtigt, wie ein Duft, der sich in einem Kleidungsstück nicht für immer halten kann. „Henryk, was soll das alles? Wenn wir so weiter machen, wirst Du mich schwängern. Nach der Geburt wirst du mich zu dick finden und die Verantwortung für ein Kind zu belastend. Du wirst mich sitzen lassen und was dann? Das ist mir zu konventionell.“
In Trägershirt und langem bunten Rock baute sie sich vor ihm am Strand auf, als wollte sie ein Theaterstück ankündigen. „Lass uns wagemutig sein!“
Er hatte genickt und gegrinst.
„Lass uns an den Zufall glauben!“
„Wie das?“
„Ich habe es in einem Buch gelesen. Das ist super romantisch: Wann immer wir in einem Hotelzimmer übernachten, werden wir eines der Bilder von der Wand nehmen und auf die Rückseite schreiben ‚Ewa & Henryk Egmoond aan Zee‘. Wenn wir das lange genug machen, wird irgendwann der Moment kommen, in dem wir ein Bild umdrehen und dort schon unsere Namen stehen. So finden wir uns wieder.“
Sie hatte ihn aus dem Sand zu sich gezogen und leidenschaftlich geküsst. Wieso nur war er so naiv gewesen zu glauben, dass ein Leben ausreichte, um einen Menschen wiederzufinden?
Er war viel gereist und hatte in vielen Hotelzimmern übernachtet. Er hatte auf viele Bildrückseiten geschrieben, aber selbst nie eine geheime Botschaft gefunden. Er konnte nicht sagen, wie oft er nach dem Umdrehen eines Bilderrahmens enttäuscht auf einer Bettkante gesessen und wütende Gespräche mit Ewa geführt hatte: „Wie, Ewa, wie?! Selbst, wenn hier deine Botschaft stünde, wie würde ich dich finden?! Es könnte Jahre her sein! Wo wärst du jetzt?!“ Irgendwann hatte er begonnen, ein Notizbuch zu führen, in dem er die Namen der Hotels notierte, in denen er gewesen war. Er hatte sich oft vorgestellt, wie Ewa und er sich eines Tages
gegenüber säßen und darüber lachten, in welchen Orten und Hotels sie sich knapp verpasst hatten. Seit vielen Jahren stand hinter seinen Einträgen ein Minus. Es bedeutete, dass es keinen Bilderrahmen gegeben hatte oder wie auch in diesem Zimmer, der Bilderrahmen diebstahlsicher an die Wand geklebt war, sodass er nicht die verabredete Botschaft hinterlassen konnte. Manchmal war er auf die kleinen Notizblöcke ausgewichen, die in teuren Hotels auf den Schreibtischen lagen. Natürlich wusste er, dass die von ihm beschriebene Seite vom Reinigungspersonal abgerissen und in den Papierkorb geworfen wurde. In einem letzten
Anflug von Verzweiflung hatte er begonnen, vor seiner Abreise die Schubladen der Nachtschränke herauszuziehen und auf ihre Unterseiten zu schreiben. Er schrieb schon lange nicht mehr nur den
verabredeten Satz. Das Leben war ja lang gewesen. Wieso sich also nicht mehr Eloquenz leisten? Er schrieb auch immer: „Liebe Ewa, ich hätte dich geliebt, ohne dich zu verlassen. Dein Henryk“.