Ehrenpreis WortReich 2019: „Schattentanz“

Text: eingereicht von Nicole Makarewicz für den Kurzgeschichtenwettbewerb WortReich 2019 | 29.11.2019

Der Schnee knirscht unter deinen Füßen. Ein stiller Laut, gedämpft, wie alle Geräusche um dich herum. Gestern noch hat dich beim Anblick der weißen Flocken ungläubiges Staunen erfüllt. Inzwischen hat die Kälte auch den letzten Funken Neugier in dir abgetötet. Ihre geschärften Klingen durchdringen dich, schneiden dir ins Mark, schälen den Lebenswillen von deiner Seele und lassen dich wund und bloß zurück.

Durch deine dünnen Sohlen hast du vor dem Schnee jeden Stein gespürt. Bis aufs Blut wundgescheuert, die Füße so angeschwollen, dass du die Schuhe selbst beim Schlafen nicht mehr ausgezogen hast, zu groß war deine Angst, das gemarterte Fleisch nicht mehr in sie hineinquetschen zu können. Inzwischen sind deine Füße taub, und obwohl du Erfrierungen befürchtest, bist du froh über jede Stelle deines Körpers, die nicht schmerzt.

Du bist schon so lange müde, dass du dich nicht mehr daran erinnerst, wie es sich anfühlt, ausgeschlafen zu sein. Deine Alpträume sind Weggefährten, die dir vertraut sind wie die Geister, die dich begleiten.

Kein Jahr ist seit deiner Hochzeit vergangen. Ein Fest, das weder rauschend war noch opulent und dennoch der schönste Tag deines Lebens. Denn du hast ihn mit jenen verbracht, die dir am liebsten waren. Auch wenn nicht viele mit euch feiern konnten. Gekommen sind die Überlebenden, die Zurückgelassenen, die Zuversichtlichen und die Resignierten.

Die Geister der Fehlenden tanzten in den Schatten. Seitdem sind sie bei dir geblieben. Inzwischen haben sie an Anzahl die Lebenden weit übertrumpft. Sie sind der Staub und die Schreie, die Stille nach den Bomben, die gebrochenen Augen der Toten. Sie halten sich am Rande deines Blickfelds, filigrane Gebilde, deren Hartnäckigkeit ihre Erscheinung Lügen straft. Sie zwingen dich, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen. Du hältst sie mit deiner Trauer, dem Entsetzen, das in dir schwelt, vor allem jedoch mit deiner Liebe. Deine Brust ist eng geworden, hat sich zusammengeschnürt zu einem Panzer, der deine Seele ummantelt. Dein Leben ist ein brüchiges Gewebe. Jede Erinnerung eine frische Wunde, der Schmerz eine Notwendigkeit.

Deine Hand liegt beschützend auf deinem Bauch, der tiefer steht als noch vor ein paar Tagen. Du beschwörst dein Kind, sich noch Zeit zu lassen. Die Welt, in die es drängt, wird es nicht willkommen heißen. Noch bist du sein Universum, und wenn du könntest, dann würdest du es in dir behalten.

Du zwingst einen Fuß vor den anderen. Jeder Schritt ins Unbekannte ein Kampf gegen deine Instinkte, die nach Vertrautem drängen, nach Sicherheiten, die brüchig geworden sind und trügerisch. Gerüchte werden an dich heran- und wieder fortgetragen. Auf Schlagworte reduzierte Realität, keines wahrer als die anderen, von Hoffnung eingefärbt, von Ängsten verzerrt. Dein Leben ist Gehen, der Weg deine Welt. Dein Ziel erscheint dir wie ein Wunschtraum, unerreichbar, irreal und unfassbar fern.

Als du schon nicht mehr daran glaubst, kommst du an, aber deine Füße drängen weiter, dein Herz warnt dich, einer Illusion zu erliegen. Dein Vertrauen ist aufgebraucht. Du wehrst dich gegen freundliche Worte, verschließt dich der drohenden Enttäuschung. Du gehörst hier nicht hin, gehörst nirgends mehr hin, bist heimatlos, verloren gegangen in einem Krieg, der dir aufgezwungen worden ist.

Dein Kind hat gewartet, jetzt ist es bereit. Die Schmerzen zerreißen dich, du gibst dich ihnen hin, es sind gute Schmerzen, die einzigen, die es wert sind. Dein Kind zerrt an dir, drängt heraus, ins Licht, in die Welt und mit ihm kommen die Tränen. Tränen der Freude und alle, die du nicht zu weinen gewagt hast.

Dein Kind hat seine Haare und seinen Mund, und alles ist Trauer und Schmerz. Du weinst und weinst und weinst.

Du siehst seine Hand, immer nur seine Hand, die aus deiner gleitet und abrutscht am glatten Gummi des Bootes. Du hörst deine Schreie und dein Flehen um Hilfe, auf das niemand reagiert. Jeder ist sich selbst der nächste, ausgelaugt von der Flucht und dem Horror des Krieges. Von der Weite des Meeres paralysiert, schockstarr seiner eiskalten Erbarmungslosigkeit ausgeliefert. Die Verantwortung für das Kind in dir bindet dich ans Leben, hält dich davon ab, ihm nachzuspringen, dich ins Vergessen fallen zu lassen.

Es ist zu spät im Jahr für eine Überfahrt. Das Meer ist aufgewühlt, dunkelgrau und schaumgekrönt. Nicht viele gehen das Risiko ein. Noch weniger überleben es. Aber es gibt Gerüchte von Aufnahmestopps und abgeriegelten Grenzen und dein Kind ist sicherer, solange es noch nicht geboren ist. Und er ist bei dir, er verlässt dich nicht, niemals, das hat er geschworen und er hält sein Versprechen. Er bleibt bei dir bis zum Schluss und auch danach, reiht sich ein in die Armee deiner Geister.

Schweigend haben sie dich begleitet, stumm haben sie dir beigestanden, wortlos begrüßen sie dein Kind. Echos eines anderen Lebens, des Lebens, das du dir erträumt hast. Auch er ist da, wacht über sein Kind. Du lächelst ihn an, dankbar für alles, was er für euch riskiert und verloren hat. Dein Kind macht sich bemerkbar, ein zartes Maunzen, das dich mit Zärtlichkeit überschwemmt. Das Gefühl, das du empfindest, ist dir so fremd geworden, dass du es erst nicht einordnen kannst.

Es ist Glück.

Du siehst ihn an, willst dein wiedergefundenes Glück mit ihm teilen, du verdankst es nur ihm. Er lächelt, so zärtlich, dass es wehtut, und etwas verändert sich in dir, und er verblasst und mit ihm all die anderen.

Im Schatten tanzen Staubkörner.

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