Ehrenpreis WortReich 2019: „Lingua potentialis“
Text: eingereicht von Ruth Schmiedberger für den Kurzgeschichtenwettbewerb WortReich 2019 | 29.11.2019
Ich ersticke fast. In diesem Zimmer. Und nicht nur hier.
Auch wenn die Luft etwas abzukühlen beginnt, tanzen die Fata Morganas in meinem Kopf weiter. Ich muss sie bannen. Diese Geister des Schattenreichs. Der vierte Tag in San José und noch immer weiß ich nicht, wie ich beginnen soll. Über den Vater schreiben. Über meine Beziehung zu ihm. Über das Loch, das er in mir hinterlassen hat. Und dabei nicht untergehen. Truth. My darkness is shining. Have faith in myself. Truth. Wo beginnen? Was steht am Anfang einer jeden Beziehung? Und wie eine Chronologie finden, wenn sich in mir ein Taifun erhebt, sobald ich versuche, das Geschehene in Worte zu fassen? Am Punkt der Handlungsunfähigkeit trifft Ohnmacht auf Sprachlosigkeit. Der Atem steht still. Und still auch das Herz. Eine trügerische Ewigkeit kein Atmen und kein Klopfen des Herzens. Scheintot. Was bleibt, ist ein Gefühl des grenzenlosen Auseinanderdriftens. Eine alles umfassende Weichheit, ein nie enden wollendes Wattemeer. Glattes, glitschiges Ich. Zerrinnt wie Eis in der Sonne.
Eine Ich-Auflösung.
Ich muss Worte finden gegen diesen Orkan der Selbstauslöschung.
Begann alles, als Vater eines Morgens den Zettel an die Badezimmertür heftete? Ich lasse mich scheiden. Hans Binder.
Die Mutter zuckte mit den Schultern. Am Abend hing der Zettel immer noch. Vater sagte: Ich habe in der Früh einen Zettel aufgehängt. Habt ihr dazu nichts zu sagen? Niemand reagierte. Vater nahm den Zettel wieder ab und ließ sich nicht scheiden.
Oder begann alles damit, dass er nachts immer später nach Hause kam? Bis er eine Nacht ganz weg blieb und schließlich tagelang nicht zu Hause auftauchte? Mutter fand einen Schlüssel. Vater hatte sich eine Zweitwohnung angemietet. Und irgendwann blieb er dort und kam nicht mehr zurück. Es gab nie einen offiziellen Grund, weshalb Vater ausgezogen war. Es wurde nicht einmal davon gesprochen, dass sie getrennt lebten. Es gab nur eines: Schweigen. Hartnäckiges, undurchdringliches Schweigen.
Der Anruf hatte mich nicht sonderlich überrascht. Die letzten Telefonate mit Vater waren von einer unglaublichen Schwere und einer zunehmenden Bösartigkeit gekennzeichnet. Oft lallte er so sehr, dass ich kein Wort verstand. Meist weinte er und immer öfter brüllte er Schimpfwörter in die Hörmuschel. Du blade Blunzn, Gfrast, Auntepschte. Ich legte dann auf. Manchmal, wenn er einigermaßen bei Sinnen zu sein schien, sagte ich: Ich komme nach Wien und dann fahren wir wieder in die Psychiatrie. Darauf sagte er stets: Geh scheißen.
Bilder schießen wie Funken aus einem brodelnden Lavasee empor. Diese vielen Geschichten, die mir Vater in unterschiedlichen Versionen erzählte. Wie ihn plötzlich das Verlangen ereilt habe, wieder einmal sein Geburtshaus in der Achtergasse aufzusuchen. Detailliert erzählte er, wie eine Frau die Tür öffnete, ihn in die Wohnung bat und er einen Blick ins Kabinett werfen durfte. Dort, wo er geboren wurde und seine Mutter während des 2. Weltkriegs einen Kommunisten versteckt gehalten hatte. Ein anderes Mal erzählte er dieselbe Geschichte, aber leider öffnete niemand die Tür. Ich kannte Vaters Hang zu Ausschmückungen und nahm an, dass die zweite Version stimmte. Kurze Zeit später suchte ich aus Neugierde über seine Erzählungen selbst sein Geburtshaus auf. Als Kind war ich ein einziges Mal dort gewesen und konnte mich deshalb nicht mehr genau an das Mehrparteienhaus erinnern. Ich rief Vater an und fragte ihn, ob die Wohnung links oder rechts vom Lift lag. Er antwortete: Was? Da gibt’s jetzt einen Lift?
Ich vergewisserte mich, ob ich schon im richtigen Haus stand, bis mir klar wurde, dass Vater mich wieder angelogen hatte. Er hatte den Besuch in seinem Geburtshaus erfunden. Er zimmerte sich Wahrheiten zurecht und wusste am Ende nicht mehr, wem er welche Geschichte aufgetischt hatte. Gibt es im Lügendickicht Lianen des Lichts und der Sonne?
Das Loch in der Balkontür. Nach der Beerdigung. Beim Betreten der Wohnung schlitterte ich in eine Landschaft aus Eis. Alles lag wie versteinert an seinem Platz. Nichts, was an ein Leben erinnerte, kein Anzeichen von menschlicher Existenz. Nur Frost und Starre. Als wäre Vaters Wohnung eine verstaubte Kammer voll Requisiten. Ein Sammelsurium an Automagazinen, Formel 1-Fahnen und Baseballkappen mit Ferrari-, Lamborghini- oder was weiß ich noch für welchen Emblemen. Nicht zu vergessen: Überall leere Weinflaschen. Erst auf den zweiten Blick fiel mir auf, dass in der Balkontür ein Loch klaffte. Hier hatte unübersehbar ein Freak gehaust. Ein vom Saufen Wahnsinniger.
Elfi. Vaters geheime Geliebte. Plötzlich stand sie da, gab mir die Hand. Servus, ich bin die Elfi. Der Elfi-Mund erzählte, dass der Josef der Lebensmensch gewesen wäre. So ein lieber Mensch, der Josef. Aus ihren Augen schossen Tränen, ein echter Trommelwirbel an Elfi-Tränen. Der Elfi-Mund erzählte auch, dass sie ihn abholen und in die Psychiatrie hatte bringen wollen; aber der Josef lag tot auf dem Bett, ja, die Psychiatrie brachte ihn schon ins Grab, bevor der Josef seinen Fuß hineinsetzen konnte. Wieder Elfi-Tränen. Sie schleppte Säcke mit Vaters Hab und Gut in ihren Fiat. Als der Fiat beinahe platzte, streckte sich mir wieder die Elfi-Hand entgegen. Der Elfi-Mund sagte: Dann sehen wir uns jetzt ja öfters.
Der Moldau. Mutters Geliebter. Eigentlich heißt er ja Herr Swoboda, aber Mutter nennt ihn Moldau. Der Moldau reparierte das Loch in der Balkontür und räumte die Flaschen aus der Wohnung. Der Moldau putzte auch das Bad und strich die Wände neu. Der Moldau sagte wenigstens nicht: Dann sehen wir uns jetzt ja öfters. Der Moldau sagte: Kranker Mensch, dein Vater. Der Moldau hat Recht, denke ich.
Ich muss Worte finden!
Vielleicht komme ich meinem Vater näher, wenn ich eine Sprache für das finde, was hätte sein können. Eine lingua potentialis. Ein Sprachboot auf dem Fluss der Möglichkeiten. Und ich bin die Fährfrau, die den Kahn über die Wellen manövriert. Ja, vielleicht komme ich der Wahrheit im Erfinden näher als im Schürfen. Bis die Hitze um die Ecke kriecht, sich in die Ritzen der Mauern und Straßen zurückzieht und endlich eine kühle Brise ins Zimmer weht, bis sich meine Augen schließen, die Gedanken ruhen und der Schlaf mich umhüllt, bis dahin werde ich schreiben. Jedoch: Kein Anschreiben und Anklagen. Kein Schreiben, das sich gegen das Draußen stemmt. Kein Aufbäumen gegen das geschäftige Treiben der Anderen. Kein Kratzen und Schaufeln in vergangenen und gegenwärtigen Gruben. Kein Schreiben zwischen die Welten.
Sondern: Ein Schälen aus den Zeiten, ein Hervorkriechen aus den Höhlungen. Ein Auftauchen aus den Bedeutungen. Nackt und petrolgrün. Ein Wandeln in Lust und Wörterwald. Ein Schöpfen und Erfinden. Ein Erdichten eines Zentrums, von dem aus die Geschichte, von dem aus jede Geschichte ihren Lauf nimmt. Bis also die Hitze um die Ecke kriecht. Heute, morgen und übermorgen.