„Fliegende Rinder“ von Sonja Kettenring

1
„Du“, sagt Jannis zu Susanne und setzt sich auf.
„Über uns fliegt gerade eine Kuh.“
„Ja sicher.“ Susanne rührt sich nicht, hält die Augen weiterhin geschlossen.
Jannis starrt in den Himmel. Dann zu Susanne. „Mensch, jetzt schau doch wenigstens mal!“
Betont langsam setzt sich Susanne auf.
„Und wo soll sie sein, deine Kuh?“
„Zu spät“, sagt Jannis. „Jetzt ist sie weg.“
Susanne verdreht die Augen und lässt sich wieder auf den Rücken fallen. „Vielleicht war es ein Storch?“, fragt sie.
„Die sind auch ziemlich groß.“

2
„Was ist?“, fragt Susanne später, als sie sich auf den Heimweg machen. „Denkst du immer noch an diese Kuh?“
„Lass uns Schluss machen“, sagt er.
Sie lacht. Dann merkt sie, er meint es ernst. „Spinnst du?“, fragt sie. „Wegen einer Kuh?“
Nein, denkt er. „Ja“, sagt er. „Wegen einer Kuh.“
Sie starrt ihn an.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“
„Doch.“
„Du machst mit mir Schluss, weil ich dir nicht glaube, dass du eine fliegende Kuh gesehen hast?“
„Ja“, sagt Jannis. „Nein“, verbessert er.
„Wegen –“
Sie sehen sich an.
„Wegen allem anderen“, sagt er schließlich.

3
„Er hat mit dir Schluss gemacht?“ Nina schüttelt den Kopf.
„Hätte ich ihm gar nicht zugetraut.“
Susanne sieht sie irritiert an.
„Und was war mit der Kuh?“, fragt Nina schnell.
„Welche Kuh?“
„Na, die fliegende Kuh, die er gesehen hat?“
Susanne verdreht die Augen. „Der spinnt doch. Eine fliegende Kuh, also echt jetzt.“
„Du hast sie also nicht gesehen?“
„Nina!“, ruft Susanne.

4
„Kühe können nicht fliegen“, hat Bärbel gesagt. Und Bärbel weiß Bescheid. Über alles. Vierundzwanzig Liter Milch am Tag und das schon seit Jahren.
Je mehr Milch, desto geringer die Chance, auf dem Anhänger zu landen, von dem nie eine zurückkehrt. Es ist der gleiche Anhänger, mit dem wir im Frühjahr zur Weide gefahren werden und im Herbst wieder in den Stall. Dann ist er ganz harmlos.
„Fliegen müsste man können“, sagt Christel oft. Dann sehen wir alle einen Moment lang auf und folgen ihrem Blick Richtung Himmel. Bis Bärbel das Schlusswort spricht: „Kühe können nicht fliegen.“
Hat das denn überhaupt schon mal eine ausprobiert, habe ich irgendwann gedacht. Vielleicht habe ich es auch laut gefragt, denn plötzlich haben mich alle angestarrt.
„Du hast wohl zu viele von Toms Podcasts mitgehört“, hat Bärbel schließlich gesagt. Das fanden sie lustig. Tom, unser Bauer, hört ständig Podcasts. Laut, weil er Kopfhörer doof findet. Du kannst alles, was du willst, sagen die Podcasts. Du bist, was du denkst.
„Vielleicht ist ja was dran?“, frage ich.
Dass sie sich nicht vor Lachen am Boden wälzen, ist alles. „Das junge Ding“, sagen sie und widmen sich wieder dem Fressen, „weiß nichts vom Leben.“
Das war der Moment, an dem ich abgehoben bin. Einfach so.
Die haben vielleicht geglotzt.

5
Jannis sitzt allein am See, als eine junge Frau auf ihn zukommt.
„Hi“, sagt sie und bleibt neben ihm stehen. „Ich bin Anica. Darf ich mich zu dir setzen?“
„Was würdest du sagen“, fragt er, „wenn ich dir sage, dass ich eine fliegende Kuh gesehen habe?“
„Eine Schwarzbunte?“, fragt sie.
„Oder Fleckvieh?“
„Du kennst dich aus mit Kühen“, stellt er fest.
Sie lächelt. „Ich wwoofe auf einem Milchviehbetrieb.“
„Wwoofen?“, fragt Jannis.
„World wide opportunities on organic farms“, sagt sie. „Für Kost und Logis auf einem Bauernhof mitarbeiten.“
„Aha“, sagt Jannis.

6
Am liebsten wäre ich ihr hinterhergeflogen. Aber wenn das stimmt, warum habe ich es nicht getan?
Ich bin einfach zu alt. Bei mir wird es Zeit für den Anhänger.
Der Anhänger, meine Güte, da machen sie ein Bohei drum. Eine jede hat Schauergeschichten vom Anhänger zu erzählen. Und die jungen stehen dann da und können kaum mehr fressen vor Angst und Grusel.
Früher, beim alten Ludwig, da hat man wirklich zügig das Weite gesucht, sobald er mit dem Anhänger gekommen ist. Aber Tom? Drei Kühe habe ich ihn auf den Anhänger laden sehen. Elli und Lisbeth waren krank, die waren nicht mehr zu retten. Und die alte Ursel noch älter als ich jetzt. Die wollte einfach nicht mehr. Hat sich so lange vor den Anhänger gestellt, bis Tom es endlich eingesehen hat.
Bei mir wäre es auch an der Zeit. Aber auf den Anhänger will ich nicht. Ich wünschte, ich hätte den Mut, ihr hinterherzufliegen.

7
„Hast du Anica gesehen?“, fragt Tom.
Seine Frau schüttelt den Kopf.
„Ich gehe Kühe zählen“, sagt Tom und geht Kühe zählen.
Eine fehlt.
„Belle?“, ruft er. „Belle?“
Noch einmal geht er sie durch. Es kommt ihm vor, als würden auch sie ihn ganz genau ansehen. Nur Christel sieht nach oben, wie immer. Er folgt ihrem Blick, aber da ist nichts. Nur eine Wolke, die ein bisschen so aussieht wie eine Kuh.
Er geht den Zaun ab. Der Zaun ist in Ordnung.
„Mirabelle ist weg“, sagt er später zu seiner Frau.
„Wie weg?“
„Ich weiß auch nicht“, sagt er. „Einfach weg.“
„Bist du sicher?“, fragt sie.
Natürlich ist er sicher. „Es ist, als –“, sagt er.
„Als?“
„Als wäre sie weggeflogen.“
Seine Frau sieht ihn an. „Tom.“
Tom stochert in seinen Bratkartoffeln.
„Sie wird schon wieder auftauchen“, sagt sie. „Wo soll sie denn hin.“
„Hmmhm“, murmelt Tom.

8
„Würdest du sie überhaupt erkennen?“, fragt Anica.
„Wen?“
„Deine Kuh.“
„Sie war braun.“
Anica lacht.
„Nicht besonders hilfreich, was?“, fragt Jannis.
Sie nickt. „Warum willst du sie überhaupt finden?“
„Will ich das?“
Sie lacht. „Du spinnst.“
„Ja klar“, sagt er. „Ich habe eine fliegende Kuh gesehen, schon vergessen? Und wehe, du fragst mich, ob es nicht vielleicht doch ein Storch war.“
„Du würdest doch einen Storch nicht mit einer Kuh verwechseln.“
„Danke.“
„Außerdem gibt es hier gar keine Störche“, sagt sie. „Ich habe zumindest noch nie einen gesehen.“
„Aber fliegende Kühe?“
Sie sehen sich an.
„Es gibt bestimmt eine Erklärung“, sagt sie.
Es gibt immer eine Erklärung.“
„Sogar für fliegende Kühe?“, fragt Jannis skeptisch.
„Sogar dafür.“

9
Ich fliege. Eine Kuh, die fliegt, wer hat denn so etwas schon gesehen. Hier noch keiner, so wie mir die Leute hinterherstarren. Wobei, die meisten sehen mich überhaupt nicht. Wie kann man eine fliegende Kuh übersehen?
Problem ist, ich weiß gar nicht, wo ich hinfliegen soll. Es gibt einfach nicht genug Möglichkeiten für eine Kuh. Noch nicht mal, wenn sie fliegen kann.
Aber irgendwas wird sich schon finden. Wenn man nur losgeht, einen Schritt nach dem anderen, dann wird sich alles finden. Toms Podcasts sagen das auch. Du kannst alles, was du willst, sagen die.

Ich will fliegen.


Sonja Kettenring, 1978 in Heidelberg geboren, lebt mit Mann und Kind im Kraichgau.
Entwickelte Software und lernte, wie man Programmcode von überflüssigem Ballast befreit. Stellte fest, dass sich dieses Konzept auch auf das Schreiben von Geschichten positiv auswirkt.

Foto: Sebastian Grayer

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