„Musikalische Schafe und heimliche Mohnblumen“ von Danielle Bilina
Ferdinand steht vor meiner Tür und druckst herum. Er trägt einen ausgeleierten Bademantel und eine bunte Pudelmütze und ich frage mich, ob seine Ohren nach dem Duschen schnell auskühlen oder ob er von einer seltsamen Mottoparty kommt. Im ersten Moment habe ich Angst, dass er mir seine Liebe gesteht oder eine Straftat. Wobei mir Zweiteres sogar lieber wäre, weil es meiner Meinung nach weniger kompliziert sein kann und ich gerne unkompliziert neben Ferdinand wohne. “Mia, ich glaube mit der Wahnwitz stimmt etwas nicht.”, sagt er stattdessen. Ich halte es für absolut plausibel, dass mit ihr etwas nicht stimmt, weil sie einsam ist. Das ist diese Art von Einsamkeit, die in der Luft hängen bleibt, wenn sie zum Postkasten geht. Die Wahnwitz heißt eigentlich Frau Waser, aber sie hört mindestens zweimal am Tag der Dirigent Votan Wahnwitz von Udo Lindenberg und das seit über einem Jahrzehnt. Das ganze Haus kennt die Chaossymphonie. Anfangs hat Herr Rainer leise mitgesummt und der Chihuhaha namens Rasputin von Frau Pavlovic aufgejault, wenn sie an der Tür im ersten Stock vorbei gegangen sind. Irgendwann ist es zu einer Melodie geworden, die uns durch den Alltag schunkelt. Sonntags um diese Uhrzeit hören wir immer Votan Wahnwitz, nur heute ist es still.
“Hast du angeklopft?”
Ferdinand nickt energisch.
„Mehrmals.“ Seine Pudelmütze wackelt dabei.
Wir steigen die zwei Stöcke hinunter. Ratlos stehen wir vor der Tür und ich klopfe mit der Faust dagegen. Ferdinand und ich hören dem Klopfen beim Verschwinden zu und warten auf bebende Schritte.
“Ich rufe die Rettung.”, beschließe ich und in dem Moment als ich das Telefon aus meiner Hosentasche krame, öffnet sich die Tür mit einem Beben.
Frau Wahnwitz sieht uns überrascht an.
“Ich war dabei Schafe zu zählen.”, sagt sie zur Begrüßung.
“Leiden Sie unter Schlaflosigkeit?”, fragt Ferdinand höflich und sie schüttelt den Kopf. “Ich überlege einen Vierkanthof zu kaufen.” Ich stelle mir eine Weide vor, auf der Lautsprecher aufgestellt sind, aus denen Udo Jügens singt und die Schafe dazu tanzen.
“Wir haben uns Sorgen um Sie gemacht.”, sage ich und sie lacht daraufhin. Es ist ein tiefes Lachen, das sich mit ihrem Raucherhusten vermischt und irgendwann in einer kurze Atemnot mündet. Frau Wahnwitz hat lange nicht mehr gelacht, deshalb mag ich dieses Geräusch. “Sorgen machen ist keine Superkraft, Kinder.”, erwidert sie.
“Wir dachten, es ist etwas passiert.”, sagt Ferdinand, der nicht weiß, dass man die Einsamkeit von anderen Leuten nicht ausspricht.
Stattdessen legt man wie Herr Rainer ab und zu einen Strauß heimlicher Mohnblumen vor Frau Wahnwitz Tür, weil man sich nicht traut die eigene Einsamkeit zu überwinden. “Dürfen wir reinkommen?” frage ich und sie sieht mich verwundert an.
“Dann können Sie uns von den Schafen erzählen.”
Wir nehmen an einem winzigen Tisch in der Küche Platz und Frau Wahnwitz stellt uns einen Teller mit Keksen und drei dampfenden Teetassen auf den Tisch. Die Küche sieht verwittert aus und die gesamte Wohnung ist von Porzellantassen überwuchert.
“Wisst ihr Kinder, wenn man einsam ist, dann passiert unendlich viel und zugleich auch nichts. Ich habe wirklich alles versucht, aber losgeworden bin ich die Einsamkeit nicht.” Sie steht da im geblümten Kittel, der aussieht als hätte er schon ihren Ahnen gehört, und ihre Mundwinkel sind ein Regenbogen ohne Farben.
Ich knabbere an einem der Kekse, der eine Staubschicht auf meiner Zunge hinterlässt und denke über ihre Worte nach.
“Ich glaube die Einsamkeit ist etwas ganz Gewöhnliches bei vielen Menschen, aber die meisten haben damit abgeschlossen. Sie nicht und darauf können Sie stolz sein, weil die Einsamkeit doch in Wahrheit eine Sehnsucht ist.”, sagt Ferdinand.
“Wie meinst du das?”, fragt Frau Wahnwitz.
“Die Einsamkeit ist die Sehnsucht nach anderen Menschen und das Uncharmante an Sehnsüchten ist doch, dass sie Platz brauchen, den man erst schaffen muss.”
Wir sind umgeben von miefenden alten Teppichen und dampfenden Teetassen und ich denke daran, dass die Einsamkeit etwas ist das fest steckt. In den Knochen ebenso wie in den Rückenwirbeln hin bis zu den Haarspitzen.
“Denkst du, dass Schafe helfen? Ich würde ihnen auch Musik vorspielen.”, fragt sie Ferdinand vorsichtig.
“Musikalische Schafe können mit Sicherheit helfen, aber wir haben hier ein Haus voller Experten der Einsamkeit mit denen man fachsimpeln kann.”
Ich denke an Herrn Rainer, dessen Frau vor vier Jahren gestorben ist und an Frau Pavlovic, die zwar Rasputin hat, aber deren Kinder sie nie besuchen. Ferdinand hat keine Familie und ich lebe sehr weit weg von meiner. Frau Wahnwitz Spur der Einsamkeit ist zwar in der Luft hängen geblieben , aber wir sind ausgeruhte Einsiedler, die ihre Sehnsüchte in ihren Kellerabteilen verbarrikadiert hatten.
“Ich schlage ein Treffen der Experten vor.”, sage ich.
“Wir laden jeden im Haus ein, der sich freut und machen es abwechselnd bei jedem von uns.”, ergänze ich und wir stoßen mit unseren Teetassen darauf an.
Ich weiß nicht, wie lange wir an diesem Vormittag an diesem winzigen Küchentisch sitzen, aber ich weiß dass die Einsamkeit heute keinen Platz darauf hat, weil Ferdinand mit seinem wilden Bart, dem alten Bademantel und der bunten Pudelmütze so laut lacht, dass die Porzellantassen beben und dass ich später meine Eltern anrufen werde, weil sie vielleicht in ihrer Wohnung wartend da sitzen und Ausschau nach anderen Menschen halten.
Irgendwann stehen wir schließlich auf, gehen vorbei an den nicht mehr bebenden Porzellanvasen und der überladenen Hutablage. „Sie sollten wieder einmal einen Hut ausführen.“, ruft Ferdinand zum Abschied. „Spielen Sie bitte unser Lied!“, ergänze ich und dieser Sonntag fühlt sich wie das wilde Leben an.
Als wir im dritten Stock ankommen, hören wir die vertrauten Worte. Er war ein Dirigent, ein großer Dirigent. Wir lauschen gerührt dem Taktstockmeister. Von oben kommt uns Herr Rainer mit einem Strauß Mohnblumen entgegen. „Bald ist ein Treffen der Einsamkeitsexperten und wir würden uns freuen, wenn sie kommen.“, sage ich und er bleibt verdutzt stehen. Er wirft einen Blick auf die Mohnblumen, sieht uns an und nickt dann überschwänglich.
Ein paar Sekunden später hören wir, wie er bei Frau Wahnwitz anklopft und die heimliche Abgabe der Blumen dieses Mal offiziell macht.
In unserem Stock angekommen denke ich, dass das Haus ohne Ferdinand ziemlich leer wäre. Wir rauchen oft die letzte Zigarette gemeinsam abends, weil unsere Wohnungen manchmal für uns zu groß sind, deshalb stehen wir lieber auf dem engen Hausflur. Wir werden Ohrenzeugen wie unten gesungen und gelacht wird. Frau Wahnwitz hat sich mit den Gedanken an tanzende Schafen, nicht mehr heimlichen Mohnblumen und Nachbarn wie uns vielleicht doch ein großes Stück aus dem Meer der Einsamkeit hinausmanövriert. Ich gebe Ferdinand einen Abschiedskuss auf die bärtige Wange und denke daran, dass ich heute die Liebe nicht schlimmer als das Geständnis eines Verbrechens finde.
Danielle Bilina ist 30 Jahre alt und arbeitet seit über 6 Jahren als Geschichte- und Deutschlehrerin arbeiten. Ihr Ziel im Alltag ist, die Schüler:innen von der wunderbaren Welt des geschriebenen Wortes zu begeistern. Alles hat damit begonnen, dass sie Harry-Potter-Fanfictions geschrieben hat und nun durfte sie in Kärnten ihre Kurzgeschichte präsentieren. Danielle Bilina gewann bereits 2020 den Kurzgeschichtenwettbewerb WortReich mit Ihrem Text „Der Knacks“.
Foto: Sebastian Grayer