„Idris war geschwommen“ von Klaus Öhler
I
Idris war geschwommen.
Hier war es tagsüber schon dunkel, die Straßen voller Schneematsch und der Diesel der Busse roch wie frisch aus der Dose. Wohin? Wenn er beim Deutschunterricht aus den Fenstern schaute, sah er nur sich selbst, das müde Gesicht in die Hand gestützt und die Spiegelung der Leuchtstoffröhren. Ein etwas dicker Mann mit angegrauten Haaren und einer Brille mit Goldrand sagte Dinge wie „Deutsch ist eure Eintrittskarte in die Gesellschaft“ und „wenn ihr euch nicht anstrengt, werdet ihr es hier zu nichts bringen“. Zuhause war Idris Schwänzkönig gewesen. Einmal hatte er sich vor die Klasse gestellt und behauptet, der Lehrer sei krank. Alle waren gegangen. Aber das hier war neu und vielleicht ernst. Hier verstand niemand seine Witze. Idris hatte keine Pläne. Und das ging natürlich nicht. Die Leute sagten es ihm bei jeder Gelegenheit.
II
Idris war geschwommen.
Die Ergebnisse der Vorprüfung hingen. Idris stand davor und lachte laut. Nicht etwa, weil er bestanden hätte. Auch nicht, weil er durchgefallen war. Nur, weil andere auch durchgefallen waren. Andere, die sich angestrengt hatten. Walid zum Beispiel, der auf Karteikarten jedes einzelne neue Wort notierte, das er hörte. Und auswendig lernte. Idris stellte sich vor die Klasse und behauptete, der Lehrer sei krank. Dann nahm er Omar, Walid und Reza und ging mit ihnen in das Städtchen.
Es war Frühling geworden. Auf einmal hatte die Luft einen eigenen Geruch, der schön war und nur schwer zu beschreiben. Sie ließen sich treiben durch die sonnigen Gassen. Idris spendierte Eis mit Geld, das er nicht hatte, zumindest eigentlich nicht hatte. Und es schmeckte doppelt hervorragend. Der Deutschlehrer lud Idris zum Gespräch. Idris ging nicht hin.
Idris lernte Frieda kennen. Es wurde Sommer, sie saßen am Fluss, sie saßen am See, sie saßen im Freibad und Idris dachte an die anderen aus der Klasse und er wusste, dass er genau hier sein wollte. Friedas Vater, ein etwas dicker Mann mit angegrauten Haaren und einer Brille mit Goldrand, suchte nach Praktikumsplätzen, die Idris nicht wollte. Aber Idris war verliebt und alles war im Fluss. Nur einmal kam diese Erinnerung zu ihm und er wäre in seinem Glück beinahe ertrunken.
Die meisten waren da schon gegangen, manche geflogen, andere mit Bussen gefahren und auf Booten. Viele waren nicht weit gekommen. Im Sommer 2015 saß Idris noch immer in Aleppo. In Onkel Ahmads altem Fernseher flimmerten die Bilder der Flüchtlingstrecks nach Mitteleuropa. Da stand Idris auf und ging. Über die Grenze. Dort fragte er weiter. Jemand wusste eine gute Stelle. Er fuhr hin. Ein kahler Felsen in Sichtweite. In der Nacht ein paar Lichter, die die Richtung anzeigten. Boote, vielleicht Küstenwache, aber selten. Das Wasser noch warm.
Zwei Kilometer, hatte der Mann gesagt. Es sah aus, als könnte man einen Stein hinüberwerfen. Idris saß lange da und warf Steine. Er war schon geschwommen, zuhause, im Schwimmbad. Sicher schon mal einen Kilometer, vielleicht auch mal mehr. Sicher nicht viel mehr. Und niemals im Meer. In der Nacht ging er ans Wasser. Er zog sich aus. Nur die Unterhose ließ er an. Ein Wind ging. Ihn fröstelte. Es war Oktober. Jetzt oder nie.
III
Idris war geschwommen.
Um sein Leben. Vielleicht hätte er beten sollen, dachte er nach den ersten Zügen. Aber das Wasser war warm, der Fels nah und das Meer leuchtete in kleinen Punkten, wenn er die Hand eintauchte. Vielleicht hätte er beten sollen, dachte er nach den ersten tausend Zügen. Das Wasser war nicht mehr ganz so warm und der Fels noch immer nah, aber kein Stück näher und das Meer schwappte schwarz zu allen Seiten und kein Horizont war in Sicht. Er wusste nicht, ob er es überhaupt noch zurückschaffen würde, wenn er jetzt umdrehte.
Genau in dem Moment fiel ihm Onkel Ahmad ein und wie seine Augen so weit geworden waren hinter den dünnen Goldrändern der Brille, als der Knall der Fassbombe die letzten Fenster eindrückte und wie die etwas dicken Backen schlaff geworden waren und auch die Hand und die Fernbedienung war tot auf den Teppich gefallen. Und Idris war nur im Sessel gesessen, sozusagen gegenüber und hatte sich nicht gerührt. Damals hatte er nicht geweint, aber jetzt wollte er weinen, aber jetzt musste er schwimmen und was sollte das auch für einen Zweck haben, zu weinen, mitten im Meer.
Und Idris war geschwommen.
Um sein Leben. Er hatte alles vergessen. Sein Kopf war eingesunken in den Takt der Arme, zerfetzte Bilder vom Holzhacken, vom Weizendreschen, vom Nageln von Dachlatten und Festschlagen von Briefmarken mit der Faust. Idris war stumpf geworden und irgendwann war der Kopf ganz weg gewesen, der letzte Gedanke so etwas wie, dass jemand alle Schulden bezahlt hatte.
Dann der Lichtstrahl. Idris war so weit weg, dass er nicht wusste, was das war und einfach nur hineinschaute wie ein verschrecktes Tier. Dann die Stimmen und sie riefen sich Dinge zu und sie zogen ihn an den Armen auf das Boot und das schmerzte und sie steckten ihn in Decken und sie schoben ihm etwas Warmes auf die Brust und das war gut. Dann kam ein Mann und die anderen gingen stumm zur Seite und der Mann war ein wenig dick, das Haar angegraut und er schaute ihn an durch den Goldrand der Brille und nickte ein wenig oder vielleicht schüttelte er auch den Kopf, aber die Augen hinter der Brille waren warm, obwohl sie grün waren.
Nur einmal kam diese Erinnerung zu ihm. Das war im zweiten Sommer mit Frieda, Idris hatte alles längst fahrenlassen und war nur noch im Freibad jeden Tag. Als Bademeister. Auf der Bahn für langsame Schwimmer kam ein Mann vorbei mit angegrautem Haar. Idris sah es schon, bevor der Mann es spürte, er kannte das Symptom, auch wenn er den Mann nicht kannte.
IV
Und Idris war geschwommen.
Um sein Leben. Er schleppte den Mann zum Beckenrand und sie zogen ihn raus. Idris leistete selbst die Erste Hilfe. Als die Sanitäter kamen, war der Mann stabil. Sie nahmen ihn trotzdem mit. Die Türen schlossen. Der Wagen fuhr an. Und mit der goldenen Brille des Mannes noch in der Hand fühlte Idris sich plötzlich, als würden die Sanitäter alles mitnehmen, was ihm je etwas bedeutet hatte. Und vielleicht war es so heftig, weil es zum ersten Mal seit Jahren war, so dass er alles vergaß: wo er war, wer noch dort war und ihn kannte und als wen und eine lange Zeit war nichts in ihm als das Nachbild des Rettungswagens und der Rhythmus des Schluchzens.
V
Jetzt war Ende September, aber das Freibad noch offen. Es war noch einmal saftig warm heute und es roch nach Pommes und Chlor. Viele Leute waren nicht da. Ein dünner, kleiner Mann mit Hinkebein öffnete seinen Zopf nach dem Schwimmen. Zwei alte Damen mit sanften Gesichtern fassten sich gegenseitig auf den Handrücken beim Sprechen. Ein Schwimmer mit mächtigem Brustkasten setzte die Schwimmbrille auf. Ein kleiner Junge weinte an Omas Hand. Ein Student mit roten Haaren trank in der Sonne Tee.
Idris stand auf den warmen Steinplatten am Schwimmerbecken und hielt entspannt Ausschau. Er wusste schon, dass nichts mehr passieren würde.
Klaus Öhler ist 1985 in Karlsruhe geboren. Er studierte Indologie, Iranistik und Mathematik in Tübingen und absolvierte die Ausbildung zum Krankenhausclown. Er arbeitet als selbständiger Clown, Dozent für Tamil und Kreatives Schreiben. 2021 erhielt er zwei Stipendien des Landes Baden-Württemberg für die interdisziplinär-literarischen
Kunstprojekte Prozedukt und Hinter Masken Masken.