„Vigo“ von Daniel Mylow

 

Ihr Gesicht war ein weißer Fleck. Sie schien nicht einmal zu atmen. Bless löste sich aus seiner Starre. Über den Wassergräben stiegen dunkle Schwärme von Faltern in das Spätnachmittagslicht. Wie ein zerbrechlicher Engel lag das Mädchen in seinen Armen. Für die Dauer einiger Herzschläge empfand er ihr Gewicht als leicht. Langsam setzte er sich in Bewegung. Vergebens hatte er versucht, das Mädchen wachzurütteln. Bless lief. Das Land hinter dem ehemaligen Todesstreifen verlor sich in einer ziellosen Ferne. Der Körper in seinen Armen wurde schwerer. Bei jedem Schritt konnte er den weißen Rand unter der Iris des Mädchens sehen.

Bless schrie. Sein Schrei zerstob in der wässrigen Finsternis hinter dem Stacheldraht. Die schneestille Luft presste seine Stimme zu einem Wimmern. Er stützte die schweißnasse Stirn auf den Lauf der Kalaschnikow. Wie Luftspiegelungen tauchten die Silhouetten der anderen Wachsoldaten aus dem Inneren der Nacht. Er ließ das Maschinengewehr fallen. Mit beiden Händen barg Bless den Kopf des Jungen an seiner Schulter. Seine Jacke färbte sich dunkel. Aus der Ferne hörte er die Alarmsirenen. Ein Mannschaftswagen näherte sich. Scheinwerfer flammten auf. Grelles Licht fiel über den Sperrgraben und das Minenfeld und dann auf den Jungen.

Grenzverletzer sind aufzuspüren, festzunehmen, unschädlich zu machen oder zu vernichten, hörte er sich stammeln. Das Gesicht des Jungen war ein weißer Fleck.

Ein Schwarzstorch flog auf und verschwand über dem lichtgrünen Wasser der Tümpel. Bless blieb erschöpft stehen. In der Ferne sah er die Dächer von Berneckenstein. Tag für Tag wanderte er von Berneckenstein an der ehemaligen innerdeutschen Grenze entlang. Grünes Band nannte sich jetzt die fünf kilometerbreite Sperrzone. Einmal, 1996, zehn Jahre nach den tödlichen Schüssen an der Grenze, hatte er die gesamten 1400 Kilometer von der Ostsee bis zur tschechischen Grenze und zurück mit dem Rad erfahren. Nur noch wenige Wachtürme waren zurückgeblieben. Alles war verschwunden. Die KFZ-Sperrgräben, die Minenfelder und Sicherheitszäune. Nur die 684 Menschen, die von 1961 bis 1989 an der Grenze erschossen wurden, verschwanden nicht. Die Zahl war in seinem Kopf.

Das Morgenlicht schimmerte noch grau, wenn er aufbrach. Und die Leere um ihn war oft sehr groß und der Himmel hing so niedrig, dass alle Düfte und Laute wie zusammengepresst schienen und manchmal kniete er dann nieder und sah auf das ziellose Davoneilen der Wolken und manchmal geschah es dann, dass er zu weinen begann. Jetzt fielen seine Tränen auf die Brust des Mädchens. Noch immer war ihr Gesicht weiß wie Papier. Bless riss sich zusammen. Er lief weiter.
Die Kameraden hievten ihn in die Kabine des Pritschenwagens.

Grenzverletzer sind aufzuspüren, festzunehmen, unschädlich zu machen oder zu vernichten, murmelte er.
Durch die Scheiben des Robur sah er, wie zwei Grenzschützer eine Plane über den Jungen warfen. Eine Million Minen, fuhr es ihm durch den Kopf. Warum ist er nicht einfach auf eine verdammte Mine getreten.
Sie erreichten das Kompaniegebäude des Wachbataillons.

Am nächsten Morgen erwachte er im Sanitätsraum. Der Genosse Major verhörte ihn. Der Landesverräter, dessen Identität man noch feststellen müsse, habe in Halle einen Zug der Reichsbahn bestiegen. Zu Fuß sei er Richtung Grenze gelaufen. Bei Sorge schnitt er ein Loch in den Grenzzaun. Das habe den Alarm ausgelöst. In seinen Taschen habe man nur eine Fahrkarte und einen FDJ-Ausweis gefunden, in dem der Name Vigo stand. Der Nachname sei ausradiert. Nun müsse sich der Genosse zu den tödlichen Schüssen am Grenzabschnitt Buchenwaldschlucht äußern. Der Genosse solle sich keine Gedanken machen. Es sei nur fürs Protokoll. Er, der Genosse Major, würde sich persönlich für ihn um Belobigung bemühen. Bless schwieg. Auch auf die wiederholte Aufforderung des Genossen Majors, nun doch endlich das Maul aufzumachen, antwortete er nicht. Er sah auf das graue, rieselnde Licht hinter dem Gitterfenster.

Vigo war mein Sohn, sagte er schließlich im Flüsterton.
Ach du Scheiße, entfuhr es dem Genossen Major.

Das Licht wob schimmernde Fäden in die Zwergstrauchheide am Weg. Seine Arme fühlten sich taub an. Nur eine kurze Pause, sagte er leise, als könne ihn das Mädchen verstehen. Vorsichtig bettete er ihren Körper auf das Gras. Stündlich wechseln die Farben, dachte er. Hier, an der ehemaligen Grenze, kannte er jede Stunde und jede Farbe.

Den Grenzgänger nannten sie ihn im Ort. Bless wohnte zurückgezogen in einem einfachen Dachzimmer, wo er von seiner schmalen Pension lebte. Vor dem Jahr 1989 war er einer, von dem es hieß, er habe einen Landesverräter geboren. Nach der Grenzöffnung war er der Mörder in Uniform, der seinen eigenen Sohn erschossen hatte. Irgendwann vergisst man, wie es wirklich war. Dagegen kann man nicht anlaufen, dachte er.

Ein Keil aus Vögeln verschwand im Bild hoher Wolkentürme am Horizont. Tag um Tag, Stunde um Stunde verschwand etwas. Nur in ihm war etwas stehen geblieben.
Sein Körper zitterte. Das Mädchen. Der Weg war ihm noch nie so weit erschienen. Und dann. Sie würden denken, dass… Bless sah auf die Wimpern des Mädchens. Samtschwarz. In diesem Augenblick begannen ihre Lider zu flackern.

Man machte Bless und seiner Frau klar, dass ihr Sohn ein Landesverräter sei. Bei Androhung entsprechender Strafen untersagte man ihnen, von einem Fluchtversuch zu sprechen. Vergebens wendete Bless ein, der Junge sei erst sechzehn gewesen. Er habe Probleme in der Schule gehabt. Man habe ihn in ein Heim geben müssen. Vigo sei kein Republikflüchtling. Bless und seine Frau wurden gezwungen, die Geschichte eines tragischen Verkehrsunfalls zu erzählen. Sie durften keine Todesanzeige aufgeben. Der Totenschein wurde gefälscht. Die Mitschüler seines Sohnes wurden von der Beerdigung ausgeschlossen. An einem eisigen Dezembertag des Jahres 1986 defilierte die winzige Trauergesellschaft vom Friedhof zum nahen Gasthof, vorbei an schwarzen Limousinen, aus denen die reglosen Gesichter der Staatssicherheit starrten. Am Abend sagte Bless zu seiner Frau, er habe das Gefühl, es sei nicht sein Sohn, den er wenige Stunden zuvor beerdigt hatte, es sei er selbst gewesen.

Man versetzte ihn ans Ende der thüringischen Landesgrenze. Er erhielt eine Medaille für vorbildlichen Grenzdienst und eine Geldprämie. Ein Jahr nach der Wende starb seine Frau. Brustkrebs. Da war sie längst von ihm fort gegangen. Die Krankheit hatte sie lange verschwiegen.
Vierundzwanzig Jahre. Der gleiche Weg. Von der Wohnung zum Grab Vigos zur ehemaligen Sperrzone auf dem unsichtbar gewordenen Todesstreifen. Unterwegs zu dem Moment, in dem alles begann und endete. Unterwegs wohin. Bless war erschöpft.

Das Mädchen in seinen Armen atmete. Hinter der Wegbiegung tauchten zwei Radfahrer auf. Bless begann zu rufen. Aus seiner Kehle drangen stammelnde Laute. Die Radfahrer hielten. Es sah aus, als würde das Mädchen lächeln. Der weiße Rand unter ihrer Iris war verschwunden.

 


 

Daniel Mylow ist 1964 in Stuttgart geboren und ist Poesiepädagoge und Dozent für Literatur. Seit 2018 ist er an der Freien Waldorfschule in Überlingen/Bodensee tätig. Daniel Mylow wurde mehrfach für sein literarisches Schaffen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Lore Perls Literaturpreis. Seine letzte Publikation erschien 2017 im Cocon Verlag Hanau – der poetische Thriller „Rotes Meer“. 

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