Ehrenpreis WortReich 2020: Spiegelung
Text: Eingereicht von Dagmar Cechak für den Kurzgeschichtenwettbewerb WortReich 2020 | 18.12.2020
Wieder einmal hatte Ella nicht dazugepasst. Dabei hatte alles so schön begonnen. Lucie, die Nachbarin aus der linken Wohnung im Stockwerk unter ihr, hatte sie eingeladen. Sie wollte ihren fünfzigsten Geburtstag feiern, nur im kleinen Rahmen, wie sie sagte. Vor dem Wohnblock auf der Parkeinfahrt, dort, wo an diesen heißen Sommertagen der Schatten früh hinkam, wollte sie einen Biertisch und zwei Bänke aufstellen und ein paar Freunde und Nachbarn einladen.
Voll Vorfreude hatte Ella sich auf die Suche nach einem Geschenk gemacht. Auf dem Flohmarkt, der jedes Wochenende vier Straßen weiter auf dem Parkplatz des Supermarktes stattfand, wurde sie fündig. Ein alter Spiegel in einem geschnitzten vergoldeten Barockrahmen hatte es ihr angetan. Er hatte die ideale Größe, und sie sah ihn schon in Lucies Vorzimmer hängen, dort, wo diese immer schon etwas Hübsches haben wollte, um die Türe des Zählerkastens zu verdecken. Das Spiegelglas war schon etwas blind, aber das erhöhte den Reiz für Ella nur. Wenn sie hineinsah, versank sie in dreihundert Jahren Vergangenheit, die dieser Spiegel schon gesehen hatte. Im Geiste erblickte sie Damen mit Krinolinen, Herren mit Zylinderhüten und Flanierstöckchen, Menschen, die vor ihm lachten und tanzten oder auch stritten und weinten. Das war das perfekte Geschenk!
Der angekündigte kleine Rahmen für die Feier wurde ein wenig vergrößert, zu guter Letzt waren es dann an die zwanzig Leute. Und Ella. Es gab reichlich Getränke, es wurde viel gelacht und einige waren auch leicht angesäuselt, wenn auch nicht auffällig. Martina vom Nebenhaus hatte einen Blechkuchen mit Marillen gebracht, Brigitte, die neben Ella wohnte, eine Schüssel mit Avocadosalat und die Gastgeberin hatte gefüllte Riesenbrezeln bestellt, von denen sich jeder ein Stück abschneiden konnte. Auch Ella bekam ein großes Stück abgesäbelt, es war mit Lachs und Schinken gefüllt und einer Sauce, die auf ihren Schoß tropfte, denn Serviette hatte sie keine ergattert. Die gute Atmosphäre zwischen den Hausbewohnern hatte ihr gefallen. Alle waren sie erst in den letzten vier Jahren in diesen neu erbauten Wohnblock eingezogen. Lucie war ein sehr geselliger Mensch, sie freute sich über jeden, der zufällig gerade auf den Parkplatz fuhr, ob Mann oder Frau, jung oder alt, sie lud alle ein, doch zur Party dazuzustoßen. Inzwischen hatte sie Kaffee zum Kuchen organisiert und danach noch, aus einem scheinbar unerschöpflichen Vorrat, weitere gefüllte Brezeln.
Mit jedem Neuankömmling wurde noch eine Sitzgelegenheit an die Tische gerückt und Ella machte Platz, rollte ein Stückchen nach hinten. Es fiel keinem auf, sie waren alle so lustig im Gespräch, auch wenn die Gespräche meist nur über Belanglosigkeiten waren. Die laute Musik verhinderte wohl auch längere, tiefe Unterhaltungen, wie Ella sie liebte. Einmal noch wurde der Kreis erweitert, als Lucie begann, die Geschenke auszupacken. Etliche schmale, hohe Geschenksäcke, die alle auf den gleichen einfallslosen Inhalt hindeuteten, standen auf der Fensterbank der Erdgeschoßwohnung, neben der die Bänke aufgestellt waren. Wein, Sekt, in jeder Preis- und Geschmacksklasse, verziert mit Schleifchen und Glückwunschkärtchen oder auch nur ohne Aufwand einfach in die Geschenksäckchen gestellt, ein Buch – „50, NA UND?“ und noch ein zweites mit dem schmeichelhaften Titel „50 ist die neue 40“ wurden mit großem Hallo ausgepackt und herumgereicht.
Dann machte sich Lucie an Ellas Geschenk. Weder sie noch einer von den anderen Gästen beachtete die liebevolle und aufwendige Verpackung. Ella hatte Stunden dafür gebraucht und sich ausgemalt, wie sehr Lucie ihre Falttechnik, mit der sie das Papier über das Geschenk gespannt hatte, und die ausgefallene Verschnürung bewundern würde. Aber nichts davon, die Bänder wurden grob heruntergerissen, das Papier zerfetzt und aus den Papierfetzen der alte Spiegel vom Flohmarkt herausgezogen und plötzlich herrschte erstauntes und peinliches Schweigen. Ella wurde heiß im Gesicht. Was ihr so schön erschienen war, der halb erblindete alte Spiegel mit seinem prächtigen barocken Goldrahmen, wirkte hier plötzlich nur mehr schäbig. Mit einem Mal sah sie, dass einer der goldenen Schnörkel angebrochen war und als Lucie in den Spiegel blickte, schrie sie lachend mit gespieltem Entsetzen auf.
„Mein Gott, ich hab‘ Akne, seht euch das an! Oder, noch schlimmer, mein Gesicht ist schon ganz verschimmelt! Hilfe, jetzt bin ich wirklich alt und das mit nur fünfzig!“ Die anderen brüllten vor Lachen. Der Spiegel ging reihum, jeder sah hinein und hatte einen witzigen Kommentar bereit, Ellas liebevoll ausgewähltes Billet fiel auf den Boden und landete unbeachtet auf dem Haufen aus zusammengeknülltem Geschenkpapier, das Lucie unter den Tisch geworfen hatte. Leise rollte Ella weg von der übermütigen Gesellschaft, hin zum Hauseingang. Sie war müde, auch wenn der Rollstuhl sicher bequemer war, als die harten Bierbänke ohne Lehne, ihr tat der Rücken trotzdem weh. Auch der Lärm war anstrengend für sie. Sie war dankbar, als sich die Lifttüren schlossen und Ruhe um sie war. Es fiel niemand auf, dass sie das Fest verlassen hatte. Oben in ihrer Wohnung im dritten Stock öffnete sie das Küchenfenster, das nun schon im Schatten lag, um frische Luft in die Wohnung zu bekommen.
„Von wem ist eigentlich der Spiegel?“, schrie unten gerade eine Stimme, die vor guter Laune und Alkohol schon am Überkippen war. „Keine Ahnung, es sind so viele Geschenke, ich danke euch allen, ich muss erst, dann später, alles sortieren.“
Lucie klang glücklich.
„Sollen wir tanzen?“ Begeisterte Rufe schallten zu Ellas Fenster, die Musik wurde noch ein wenig lauter aufgedreht. Da ohnehin alle Bewohner entweder beim Fest oder nicht zu Hause waren, störte sich keiner daran. Die Feier ging bis tief in die Nacht.
Am frühen Morgen fuhr Ella mit dem Lift nach unten, um vor der Tageshitze, wie immer, noch ein wenig frische Luft zu schnappen. Die Feiernden hatten alle Spuren des Festes ordentlich beseitigt, die Einfahrt war makellos. Ella rollte mit ihrem Müllsack zu den Tonnen und dort sah sie ihn. Es war ein großer Splitter, der da am Boden glänzte. Gefährlich für ihren Rollstuhl und vor allem gefährlich für Kinder, die oft barfuß über die Einfahrt liefen. Mühsam versuchte sie, die Scherbe mit ihrem Stock an die Wand zu schieben und nach einiger Zeit gelang es ihr, sie aufzuheben, ohne aus dem Rollstuhl zu fallen. Sie wollte sie schon in die Tonne für das Altglas werfen, als sich ein erster Strahl der aufgehenden Sonne in den Müllraum verirrte und ihren Fund aufleuchten ließ. Er reflektierte das Licht golden und verzauberte sie. Als sie, das Glasstück in der Hand, ins Freie rollte, erkannte sie, dass es ein Stück von ihrem Spiegel sein musste, den sie für Lucie gekauft hatte. Ein letztes Stück reflektierter Vergangenheit aus einem goldenen Rahmen gefallen. Sorgsam packte sie das Stück, das wohl im Trubel des Festes zerschellt war, in ein Tuch und nahm es mit.