Du bist ein typischer 68er!
Politische Bildungsprozesse zu den 1968er Jahren in Kärnten
von Solveig Haring
Das Kärntner Bildungswerk bot im April und Mai 2022 drei Veranstaltungen zur politischen Bildung zum Thema „Die 1968er Jahre in Kärnten“ an. Die Reihe „Zeitzeug:innen berichten“ lud diesmal die Generation geboren zwischen 1935-1955 zur Teilnahme ein. In den sogenannten „Erzählkreisen“ standen zuerst die individuellen Wahrnehmungen und Erinnerungen an damalige Kärntner Medienberichte und Erlebnisse im Vordergrund. Der Fachvortrag von Dr. Johannes Dafinger, Experte der Zeitgeschichte (Universität Salzburg) rundete am 12. Mai das Erzählte ab.
Die 1968er. Ein Symbol für viel Veränderung – auch in Kärnten
Dass 1968 mehr als eine normale Jahreszahl ist, wurde gleich beim ersten Erzählkreis deutlich. Es handelte sich um ein feuriges Thema mit vielen Nuancen. Die Erzählenden berichteten von ihren Lebenserfahrungen in den 1960er und 1970er Jahren. Die Basis für die Erzählkreise bildete dieser Einladungstext: „Mitte der 1960er begannen junge Menschen, ausgehend von den USA, sich gegen die bestehenden Gesellschaftsstrukturen aufzulehnen. Zum einen formierten sich an Universitäten Studierende zu Protesten, zum anderen entwickelten sich weltweit Hippie-Bewegungen als Gegenströmung zu gängigen konservativen und konsumorientierten Lebensformen“. Die Veranstaltungen wurden vom Kärntner Bildungswerk dokumentiert, auch das lokale radio AGORA 105,5 kam zu Besuch.
In meiner Rolle als Moderatorin der Erzählkreise durfte ich die Teilnehmenden durch diverse Unterthemen begleiten: Erzählt wurde unter anderem vom Alltag und Aufwachsen in dieser Zeit, von der Berichterstattung in den Medien, von politischen Aktivitäten und Protestaktionen, wie zum Beispiel der Anti AKW (Atomkraftwerk), dem Ortstafelstreit und der Gründung der Klagenfurter Universität. Selbstverständlich wurde auch über die Sexuelle Revolution, die Gleichstellung von Frauen und Männerrn sowie nicht zuletzt auch über das eine oder andere Rauschgift gesprochen.
„1968 in Klagenfurt? Da war doch nix los!“
Noch bevor wir uns zum Erzählen hinsetzten, sagte eine Teilnehmerin: „Also in Kärnten war nix los, ich habe das alles nur mitbekommen, weil wir einige Jahre in Deutschland lebten und mein Mann sehr aktiv war!“
Eine weltweite Revolution
Die 1968er Revolution, die in den USA, in Frankreich und in Deutschland deutlich sichtbar war, wurde durch die Reiseerfahrungen der Erzählenden und durch die Medien nach Kärnten gebracht.
Im Allgemeinen wurde der Begriff „die 1968er Jahre“ erst im Nachhinein zum Symbol für die Aktivitäten einer weltweite soziale Bewegung, die sich gegen vorherrschende autoritäre Strukturen, gegen den Krieg (Vietnamkrieg, Kalter Krieg, Kuba Krise) und für Demokratie einsetzte.
Ein Teilnehmer erzählte: „Die Zeit damals war durch den Vietnamkrieg geprägt, der große Auslöser damals war der Besuch von Schah Mohammad Reza Pahlavi (1967) bei dem große Gegendemonstrationen stattfanden. Das habe ich natürlich gehört, es hat wirklich Tote gegeben. Benno Ohnesorg in Berlin. Der Rudi Dutschke wurde schwer verletzt.“
Ausläufer der großen gesellschaftlichen Veränderungsprozesses trafen Kärnten also doch! Studierende (vor der Universitätsgründung studierten die Kärntner:innen unter anderem in Graz, Wien, Salzburg und Innsbruck) erinnern sich sehr gut an diese Zeit. „In den Roben und Talaren sitzt der Mief von 1000 Jahren“ zitiert ein Teilnehmer.
Die Universitätsstruktur war im Umbruch, die Studierenden und die Lehrenden forderten Mitspracherecht. Die Erzählkreisteilnehmer:innen erinnern sich an die Borodajkewycz-Affäre 1965: der Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Hochschule für Welthandel äußerte sich in seinen Lehrveranstaltungen lautstark antisemitisch und deutschnational wofür er 1966 zwangspensioniert wurde, in Österreich führt diese Affäre zu einer ersten Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus (siehe Kniefacz 2018).
Ein Teilnehmer erzählte über seine Studienzeit in Graz: „Im Juni 1968 habe ich in Graz meinen Diplomingenieur gemacht, und auf der Mensa in Graz war eine große Protestversammlung, schräg gegenüber sind wir dann ins Allemannenhaus, zu den Burschenschaftlern, es wurde gesagt: ‚wir wollen mit denen diskutieren‘, so sind zwei bis dreihundert Leute ins Gasthaus dort gegangen. Drinnen saßen einige wenige Burschenschaftler, sie haben den Geburtstag ihres Kollegen gefeiert. Die Kellnerin hat sich geschreckt, hat die Polizei gerufen, die Protestaktion war mittlerweile auf die Stufen vor das Gasthaus gezogen, die Polizei hat gemeint: wenn ihr eine Ruhe gebt, könnt ihr sitzen bleiben, so ist alles relativ friedlich ausgegangen“.
Einige Erzählkreisteilnehmer:innen meinten, dass es Bruno Kreiskys Politik zu verdanken gewesen sei, dass in Österreich deeskalierend mit den Protesten umgegangen wurde: „wir haben eine Regierung gehabt mit Kreisky und Firnberg die diese Generation so dermaßen beeinflusst hat, das UOG (Universitäts-Organisationsgesetz) hat bewirkt, dass wir nächtelang um die Studienrichtungsvertretung diskutiert haben“.
Heute ist die Mitsprache als Gremienarbeit an den Universitäten implementiert. Neben den berühmten Sit-ins (eine friedliche Demonstrationsart bei der man am Boden sitzend teilnahm) gab es auch teach-ins (eine Protestaktion an der Uni). Das wohl berühmt berüchtigste teach-in war die Wiener Aktion „Kunst und Revolution“. Hier waren die als Uni-Ferkel bezeichneten Künstler Otto Mühl und Günther Brus beteiligt. Ein Erzählkreisteilnehmer sagte: „Da wurde an der Uni der Hörsaal mit Fäkalien vollgepflastert…da war auch die Valie Export zu dieser Zeit…aber in Österreich war es im Gegensatz zu Deutschland relativ ruhig“.
Doch keine Hippies in Kärnten?
Die 1968er als Revolutionsgedanke wurden nicht immer als solcher wahrgenommen. Ein Teilnehmer sagte: „Ich bin gekommen, weil mein Freund mich immer als ‚typischen 68’er‘ bezeichnet und ich eigentlich nicht weiß, was er damit meint“. Die anderen erwiderten: „das sagt man doch zu Personen, die aufsässig sind“.
Ein Teilnehmer sagte: „Natürlich hab ich die sogenannten 68er-Kultur gehört, darüber gelesen, bin aber selber dort gar nicht eingestiegen und hab mich eher mit Volkstanzen, Sport und Bundesheer beschäftigt. Ich würde mich also eher als das konservative Gegenteil der typischen 68er bezeichnen. Dass mich das Schicksal dann für 20(!) Jahre in die USA und Umgebung ’verblasen‘ hat, ist eine andere Geschichte…“
Auch schwierige Themen waren Teil des Erzählkreises: Ein Teilnehmer berichtete, „ein schauriger Zug angeführt vom Kardinal hat dagegen demonstriert, dass Abtreibung in gewissen Fällen erlaubt wird. Eines Tages kam mein Sohn mit Plastik-Embryos aus dem Religionsunterricht nach Hause, ich habe das als absolute Pornographie empfunden und in der Schule angerufen – keiner wusste davon. So wollte der Lehrer demonstrieren, dass Abtreibung Mord ist“.
„Der Zeitzeuge der größte Feind des Zeitgeschichtlers“?
Ganz im Gegenteil!
Das Mitmachen bei einem Erzählkreis lohnt sich! Die Lebensgeschichten zu einem bestimmten Thema oder Lebensabschnitt wurden ausgetauscht. Es wurde diskutiert und daraus entstand Wissen über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede einer Generation. Die eigene Biografie kann so in einem neuen Licht gesehen werden. Die Beiträge der Zeitzeug:innen sind ein wichtiger Bestandteil in der geschichtlichen Aufarbeitung einer Region, auch jüngere Zuhörende profitieren davon. Erzählkreise unterstützt einen politischen Bildungsprozess für jedes Alter.
Das wurde auch in der letzten Veranstaltung deutlich, als die Zeitzeug:innen mit dem anwesenden jungen Wissenschaftler Synergien entwickelten und sich gegenseitig berichteten. Es wurden Verständnisfragen gestellt und Details aus Kärnten erweitert. Zum Beispiel ging es um den Ortstafelsturm. Zwei Teilnehmerinnen erzählten, wie aufgeladen damals die Stimmung in der Schule bzw. in der Ausbildung war. Außerdem berichtete der Geschichtsexperte Dr. Johannes Dafinger unter anderem davon, dass das heutige Europahaus in Klagenfurt, in dem auch die Veranstaltungsreihe stattfand, 1979 kurzfristig besetzt, um daraus ein selbst verwaltetes Kultur- und Kommunikationszentrum zu machen. Auch erinnerten man sich gemeinsam an das Pink Floyd Konzert im Stift Ossiach, das 1971 großes Aufsehen erregte – nicht nur im Positiven.
Literatur zum Weiterlesen:
Kniefacz, Katharina (2018). Das Jahr 1968. In: Aufbrüche, Krisen und Konflikte. Universität Wien: https://geschichte.univie.ac.at/de/artikel/das-jahr-1968
Online mit einer spannenden Literaturliste am Ende des Artikels!
Kolland, Franz (2006). Streit der Generationen? Altern im Feld von Generationenbeziehung und Generationenverhältnis.
Journal für Psychologie, 14(2), 205-226. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-16997
Zur Autorin:
Projektlinks:
- Aufruf für Zeitzeug:innen: https://bildungswerk-ktn.at/68er-lebensgeschichten/
- Projektaufruf: https://bildungswerk-ktn.at/zeitzeugeninnen-der-1968er-berichten/
- Einladung Erzählkreise: https://bildungswerk-ktn.at/wp-content/uploads/2022/07/68er-neue-Aufruf.pdf
- Einladung Fachvortrag: https://bildungswerk-ktn.at/wp-content/uploads/2022/07/68er-Vortrag.pdf
- Radiobeitrag radio AGORA 105.5: https://www.agora.at/news/detail/1968
Gefördert aus den Mitteln der Österreichischen Gesellschaft für Politische Bildung