3. Platz WortReich 2020: 0 Prozent Regenwahrscheinlichkeit

Text: Eingereicht von Larissa Schleher für den Kurzgeschichtenwettbewerb WortReich 2020 | 18.12.2020

 

Immer musst du übertreiben, sagte ich, das ist doch symptomatisch an dir. Ganz ehrlich, bei dir muss man immer was abziehen, mindestens 50 Prozent, wahrscheinlich sogar 100, dann ist das eine objektive Einschätzung, dann ist das die Realität. Und weil ich merkte, dass das hart war: Deine Mutter sagt das auch. An ihrem Blick erkannte ich, dass es das nicht besser machte, im Gegenteil, aber mein Gott, irgendwie war das doch das Totschlagargument: Weil wer kannte sie länger als ihre Mutter? Und überhaupt bewies das ja, dass ich recht hatte, wenn das sogar jemand sagte, der sie bereits gekannt hatte, als es sie faktisch noch gar nicht gab. Hundert Prozent, sagte sie dann ganz langsam, wie soll man das denn abziehen, da bleibt doch gar nichts mehr. Bevor ich ihr erklären konnte, dass das eine Hyperbel war und wenn man ganz ehrlich war, doch wieder keine, weil bei ihr konnte man tatsächlich alles abziehen und es war immer noch genug Emotion und Empörung und wie kann das sein, dass können die doch nicht machen und so weiter da, um mein ganzes Großraumbüro damit zu versorgen. Bevor ich dazu kam, ihr das alles zu sagen, sah sie mich fragend an: Wer bestimmt denn, was meine Realität ist? Sie lachte, hypothetische Frage, so was mochte sie, und dann Faust unters Kinn, den Kopf schief gelegt: Wer weiß denn, wie viel ich fühle? Und dagegen war natürlich wieder nichts einzuwenden.

Ich bewunderte ihre Art, vollkommen verrückte Dinge so zu sagen, dass man sie weder widerlegen noch etwas hinzufügen konnte. Damit müsste sie eigentlich einen Job in der Kirche kriegen, sagte Fred immer, wenn ich ihm davon erzählte. Und da hatte er Recht.

Wies ich sie daraufhin, dass ihre Socken nicht zueinander passten oder gar Löcher hatten, entgegnete sie, das sei stiller Protest oder Individualismus, Konsumkritik und überhaupt diese ganze beschissene Gesellschaft mit ihren unsinnigen Knigge-Vorschriften, wer sagte denn, dass Socken ohne Löcher besser waren als welche mit? Das ist rassistisch, sagte sie und strich sich den Pony so energisch aus dem Gesicht, dass sich rote Striemen über ihre Stirn zogen.

Hä, hätte ich da am liebsten entgegnet, bin ich rassistisch, nur weil ich meine Sockenschublade alle paar Monate aussortiere, oder was? Aber schuldig fühlte ich mich trotzdem. Also ließ ich das Aussortieren sein. Nur wenn ich die Unordnung gar nicht mehr ertrug, schmiss ich ein paar besonders löchrige Dinger in den Mülleimer an der Bushaltestelle – immer in der Angst, dass jemand mich sehen und anzeigen könnte und wie peinlich es wäre, das zu erklären. Vor allem ihr. Socken ohne Löcher haben keinen Charakter, sagte sie zum Abschluss unserer Sockendiskussionen. Ah, entgegnete ich dann, na klar, Menschen ohne Löcher ja auch nicht. Sie lachte nicht darüber und ich wusste selbst nicht, ob es überhaupt witzig gewesen war und auf welche Doppeldeutigkeit ich da anspielte, es war unangenehm still zwischen uns und ich fragte: Gehen wir essen? Und sie sagte: Ja.

Wir kamen gerade vom Italiener, als einer von der Martinskirche sprang. Lia schrie, schlug dann die Hände vor den Mund, übergab sich neben den Infotafeln zum Erntedankfest. Die Polizei kam, der Notarzt, rotes Absperrband, Sirenen, aufgeregte Stimmen, noch im Pyjama vom Sonntagabendkrimi. Erst 40, tuschelten die Leute, vielleicht auch jünger, zwei kleine Kinder, den Job verloren. Die Leute schüttelten in den Tagen danach den Kopf, wia konnte ea bloß, mid zwoa gloan Butzele, stäi dia des amoi voa. Des arme Weibi, jo de Unglückliche, obs wohl wos braach, vuileicht geh ma oamoi voabei, schliaßlich müssd ma jo heifa, wenn andere ned zuarechtkäma, weil, dos des so waarad siggt ma jo, wia de scho ausseha, und sonst häd si da Mo jo aa ned, du woasst scho, des is jo meistens koa Übaraschung, oiso mi wundert‘s ned, aba jo, drogisch, dennoch, do wissd ma east wieda wia guad‘s am goht. Zwei Wochen darauf verdrängte die schwangere Tochter des Dorfpfarrers den Toten von der Tagesordnung. Die war wenigstens noch da, sogar zwei Mal, wenn man es genau nahm. Konnte angesehen werden, so fett wie sie mittlerweile war, hörte, was man sprach. Suizid, befand ich, war wohl die gemeinste Art gegenüber der Meute. Erst fehlbar werden und dann nicht einmal direkt dafür verurteit werden können.

Lias Atem roch nach Schnaps, als sie sich von mir wegdrehte. Wir hatten unsere eigene Art, Dinge zu vergessen. Ich suchte meinen Arm, fand ihn unter ihrem Bein, er war eingeschlafen. Tante Agnes Schwarz-Weiß-Portrait an der Wand schloss beschämt die Augen bei so viel Haut. Ich presste mein Gesicht in den alten Teppichboden. Atmete Schweiß ein, Bodenreiniger und Geschichten, die nie hätten passieren sollen. Irgendwann erdrückte mich die Stille. Ich sehnte mich nach Bedeutungslosigkeit, nach Farbexplosion, nach Übertönung. Streckte mich nach der Fernbedienung, drückte den Knopf. Der Bildschirm flammte auf, meine Netzhaut krümmte sich. Lia zuckte neben mir zusammen, es war verdammt laut, so direkt vor dem Fernseher. Ich wollte sie aus Reflex in den Arm nehmen, aber beherrschte mich. So blieben wir liegen, bis es hell wurde und der vergangenen Nacht das letzte Stück an Wirklichkeit abhanden kam.

Obwohl Lia den Fernseher, und auch Fernseher im Allgemeinen, nicht so gut fand, saßen wir doch fast jeden Abend davor. Irgendwie verband er uns. Ich sagte: Kein Wunder, dass du so übertreibst. Und dann, mehr zu mir: Sonst hört einem ja keiner mehr zu, bei den ganzen Marktschreiern. Sie sagte: Ich übertreibe nicht. Darum ging es doch gar nicht, entgegnete ich.

Ich wollte auf etwas ganz Anderes hinaus. Sie sagte: Aber du hast doch gesagt … – Ja, kann sein, stöhnte ich, aber das ist doch nicht der Punkt. Bei den ganzen Affen wird doch nur der gehört, der am lautesten schreit. Was wahr ist, weiß doch sowieso keiner mehr. Ihre Augen wurden riesig und ich wusste, dass das jetzt der Zeitpunkt war, ganz schnell das Thema zu wechseln, aber ich wusste auch nicht wie, sie starrte auf den Bildschirm, wo abwechselnd Trump oder Putin oder sonstwer rumhüpfte, versuchte mit allen Mitteln nicht zu heulen, und ich sagte: Du bist nicht wie Trump. Sie fing an zu heulen. Ich stöhnte auf. Ich meinte doch nur … Ach lassen wirs. Man darf heutzutage einfach nichts mehr glauben. Ich zappte zum Sportkanal und legte meinen Arm um sie. Sie streifte ihn ab und verließ den Raum.

Am nächsten Morgen musste sie früh raus. Das Glas ist verdammt durchsichtig, dachte ich, sah hinaus und ihr hinterher. Sie kickte mit der rechten Schuhspitze einen Pappbecher über den Randstein und war um die Ecke verschwunden. Ich fuhr mit dem Daumen über das Fensterglas, um zu kontrollieren, ob es echt war, so durchsichtig wie es war, es war tatsächlich nur geputzt, und fand ihre Fingerabdrücke links unten, wo sie immer am Heizkörper stand und auf mich wartete. Ich drückte meine Fingerkuppen auf ihre Abdrücke und hatte ihre Hand wieder in meiner.

Es nieselte etwas, trotz der Regenwahrscheinlichkeit von 0 Prozent, aber was bedeutete das schon heutzutage, man durfte ja nicht alles glauben.

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