2. Platz WortReich 2020: „Abdriften“

Text: Eingereicht von Adi Traar für den Kurzgeschichtenwettbewerb WortReich 2020 | 18.12.2020

 

Nichts ist, wie es einmal war.
Und was nicht sein kann, ist jetzt erst recht.
Irgendwie fatal.

Von wo ich denn herkäme, weil das sei nicht so einfach heutzutage mit dem Corona, sagt meine Gastwirtin in spe am Telefon. Aha, da hätten wir es ja, aus der Stadt. Da seien sie im Dorf viel aufrechter, da hätte der Virus keine Möglichkeiten. Aber ihretwegen solle ich halt kommen.

Reichlich sauerstoffgeschwächt, nicht nur von meinem Städter-Sein, sondern auch von der Maskenpflicht im Zug herrührend, stehe ich vor einem Wesen hinter zerbeultem Plexiglas. Aus bestimmten Perspektiven gibt es ein drittes Auge und ein sehr breites Maul frei. Das muss die aufrechte Wirtin sein. Mache ich einen Schritt auf sie zu, macht sie einen von mir weg, begleitet von einem rinderhaften Schnauben, das sonst zur Fliegenabwehr eingesetzt wird. Ihre Finger sind in grell-gelbe Haushaltshandschuhe gesteckt, sie überreicht mir einen Plastikbeutel. Darin befinden sich der Zimmerschlüssel und meine morgige Frühstücksration. Ich öffne die verschweißte Naht, fische den Schlüssel heraus und weiß, wonach die Frühstücksration schmecken wird.

Ich mache einen Spaziergang durchs Dorf, an beiden Seiten wird es von steilen, bewaldeten Bergflanken bedrängt. Obwohl ihm eine Bankfiliale fehlt, laufen lauter maskierte Bankräuber durch die Straßen, wie auf der Suche nach einer Bankfiliale und einem Job.

Von einer Frau im Nikab kann man nicht viel ausmachen, nur soviel, dass ihre Augen freudig funkeln. Hinter vorgehaltenem Tuch triumphiert sie: That’s what we say all the time. Ihr zum Strandshorts-und-Badelatschenträger degenerierter Mann drei Meter vor ihr schmollt hinter einer Mohammed-bin-Salman-Maske.

Im Frühstücksraum fällt mir anderntags ein Taschentuch aus der Hosentasche. Ich solle das sofort aufheben, schrillt die Gastwirtin. Ich erkenne sie nur an der Stimme, denn sie trägt einen Schutzanzug mit Vollvisier. Wie besessen besprüht sie den Platz, wo das Taschentuch gelegen ist, mit einer Desinfektionslanze.

Es gibt nun deutlich weniger Gäste in der Pension. Ängstliche Blicke treffen sich und wenden sich voneinander ab. Umgehend verschwindet man in den Zimmern und schließt sich ein, den Schlüssel verdreht bis zum Anschlag.

Als ich einmal einen Spaziergang durchs Dorf wage, sehe ich, wie die Frau vom Laden Lebensmittel hinters Haus kippt. Auf meine vorsichtige Nachfrage hin sagt sie, dass dieses fremdländische Zeug jetzt niemand mehr bräuchte. Frutti e verdure aus bella Italia verrotten kümmerlich im Hinterhof.

Seit heute habe ich nur mehr einen Mitbewohner. Als dieser beim Kaffeeautomaten seine Flüsterstimme erhebt, läuft mir der Kaffee über. Es hätte einen Übergriff auf einen Touristen gegeben. Wegen der Lokalsperren sei er in den Straßen umhergeirrt. Eine Gruppe junger Männer hätte ihn angegriffen und ihm eine Injektion mit Desinfektionsmittel verabreicht. Umgehend verschwinde ich im Zimmer und schließe mich ein, den Schlüssel verdreht bis zum Anschlag.

Die bankraubenden Touristen sind gänzlich aus dem Straßenbild verschwunden. Dafür sieht man jetzt die Dorfeigenen in historisch anmutenden Kostümen wie aus dem Bauernbühnefundus aufmarschieren. Allein mit ihren Blicken vertreiben sie mich vom Dorfplatz.

Fatalerweise habe ich nächtens den Schlüssel der versperrten Zimmertüre abgezogen. Unvermittelt ist die Gastwirtin eingedrungen und hat mir mit den Worten, geschlafen werde ab jetzt auch nur mehr mit Maske, einen Kartoffelsack übers Gesicht gestülpt. Mir reicht es, ich werde diesen unsäglichen Ort verlassen.

Das Letzte, was der Fernseher von sich gibt, bevor er ins weiße Rauschen abdriftet, ist ein beunruhigender Bericht. Ein Urlauber in der Seenregion hätte einen heftigen Niesreiz verspürt und sei mit seiner Frau in eine Umkleidekabine geflüchtet. Dort entledigte er sich seiner Körpersäfte. Plötzlich senkte sich ein Gewehrlauf über die Wand, auf den Mann gerichtet. Ob Absicht oder nicht, die Kugel grub sich über die Nasenhöhlen in den Rachenraum. Zum Anschlag bekannten sich die sogenannten Alpenrebellen19. Mir bleibt die Nachricht im Halse stecken.

Als ich endlich das Dorf verlassen will, stoße ich auf bewaffnete Männer, die eine Straßensperre aus Schrottautos errichten; bemerkenswert die vielen deutschen Kennzeichen. Ich mache kehrt und schlage mich in die Wälder. Auf schmalen Lichtungen grasen Kühe, die Haifischmasken aufgesetzt haben. Rund 200 Meter über dem Tal entdecke ich einen Heustadl mit Sonnenbrand, die Wände geschwärzt. Hier werde ich erst mal bleiben.

Nach Einbruch der Dunkelheit schleiche ich immer ins Dorf und fülle meinen Rucksack mit frutti e verdure aus bella Italia. Dann mache ich einen Abstecher zum Aushang der Gemeinde. Prämien werden gezahlt für Hochzeiten von Paaren, welche beiderseits aus dem gleichen Tal stammen. Es werden auch manuell betriebene Geräte, wie Milchzentrifugen und Klöppelmaschinen, gesucht. Eines Tages ist die Anschlagtafel verschwunden. Ein Mann streift nun allabendlich durchs Dorf und verkündet lautstark Brisantes aus der Welt der Verordnungen: Künftig ließe sich der landwirtschaftliche Ertrag steigern, wenn die Bauern ihre Selbstständigkeit aufgeben und ihre Anwesen den selbst ernannten Gutsherren überlassen würden.

Die Nächte werden kälter und die entsorgten Lebensmittel weniger. Zeit für mich zu gehen.

Ich meide die markierten Wege, komme nur mühsam höher. Endlich erreiche ich einen Grat, der mich über zahlreiche Erhebungen ins Tal jenseits der Grenze führen soll. Weit unter mir die entvölkerten Badeseen; wie Fußstapfen in feuchtem Schlamm sind sie ins Land gestreut. Am Ende eines Seitentals tauchen dominoartig aneinandergereihte Klötze auf, sie ergeben eine gewisse Ordnung, einen Schriftzug: Abgang I Und die Dominosteine sind Särge. Dem anschließenden Rufzeichen fehlt der Punkt. Vielleicht wartet es ja auf seine Vollendung durch mich und meinen Sarg. Lange nicht mehr habe ich derartig lachen müssen. Der Grat wird zum Kamm und lässt sich nun leicht begehen. Zwischen die Hänge des nächsten Tals ist eine Staumauer gezwängt. Auf der Zufahrtsstraße taucht eine Horde Reiter auf. Vermutlich Alpenrebellen, durchs Fernglas erkenne ich die Andreas-Hofer-Masken. Sie laden eine riesige Drahtspule ab und verkabeln damit den First der Mauer.
Das verheißt nichts Gutes.

Ich erreiche einen sich abflachenden Bergrücken. Abermals muss ich laut auflachen. Von der Hängebrücke eines Hochseilgartens herab baumeln leblose Körper; deutsche Touristen, erkennbar an den Angela-Merkel-Masken.

Wenig später gelange ich zum Grenzfluss, über den ich dieses unsägliche Land verlassen will. Inmitten des hier träge dahingleitenden Stroms sehe ich ein dicht besetztes Boot. Unter den Menschen – es sind offensichtlich Einheimische – tummeln sich ein paar Tiere. Rinder und Schafe. Ein auf sie zuschwimmender Mann wird mit Stöcken abgewehrt. Nach weiteren Versuchen lässt er ab und ertrinkt.

Dann eine Detonation, dass einem Hören und überhaupt alles vergeht.
Am Ende ist immer das Wasser.
Fatal irgendwie.

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