1. Platz WortReich 2020: „Der Knacks“
Text: Eingereicht von Danielle Bilina für den Kurzgeschichtenwettbewerb WortReich 2020 | 18.12.2020
Bei uns regnet es ein ganzes Wochenende durch. Das Dorf ist einzig und alleine dafür da, nicht gesehen zu werden. Wir haben selten Besucher und noch seltener werden diese als Touristen bezeichnet.
Ignaz und ich sitzen auf der Veranda und versuchen, daran zu denken, dass die Welt irgendwann wieder in Ordnung sein kann. Seit heute ist sie das nämlich nicht mehr.
Wir haben eine kollektive Krise.
Ignaz ist steinalt und ich bin gerade elf geworden. Einer Krise ist es egal, wie alt du bist.
Dort, wo der Boden sein sollte, ist nur noch Himmel. Dort wo der Himmel sein sollte, ist auf einmal eine Grenze.
Am Beginn jeder Trauer steht das Fehlen.
Das Fehlen von dem unverkennbaren Geruch nach frischer Kirschmarmelade, dem lauten Fluchen, wenn das Formel 1 Auto vom Lieblingsfahrer gegen die Bande fährt und die Erkenntnis, dass mein Herzklopfen nie wieder den selben Takt haben wird wie Gretas Hammerschläge, wenn sie die Holzrahmen bearbeitet. Das war der Rhythmus, den ich die letzten elf Jahre gekannt habe. Wir sitzen da und warten bis der Tag zu Ende geht. Wie beendet man einen Tag, an dem jemand anderer sein Ende fand?
Ignaz starrt in den Wald hinein, der vor dem Haus beginnt und erst irgendwo hinter der Ortsgrenze aufhört.
Sein Lieblingstier ist der Waldkauz, meines der Fuchs und Gretas das Eichhörnchen.
Das sagt ziemlich viel über uns aus, sagen die Leute im Dorf bei einer großen Tasse Kräutertee. Die Leute reden viel und Kräutertee wird literweise getrunken, weil das gegen Kopfschmerzen helfen soll.
Greta ist der festen Überzeugung, dass Tee alles heilen kann und dass Eichhörnchen zwischen den verschiedenen Welten hin und herspringen können, weil sie das in einem Mythologiebuch gelesen hat. Ignaz und ich halten das für Unfug, weil wir erstens nicht glauben, dass unsere Bibliothek so ein Buch besitzt und zweitens, weil Greta oft abergläubische Sachen sagt, über die wir heimlich kichern.
Ich frage mich, ob das Wort „Familie“ in tot und lebendig geteilt werden kann und ob Ignaz nun meine Entschuldigungen für die Schule unterschreiben wird. Meine Eltern haben dafür keine Zeit, deswegen bin ich immer schon bei Greta. Sie hat ihnen nie einen Vorwurf gemacht, vor allem nicht meinem Vater, und sie hat mich und die Gelassenheit bei sich einziehen lassen. Greta hat meine Geschichte neu geschrieben und wir haben gemeinsam jeden Tag umgeblättert. Seit heute muss ich das alleine machen.
Ignaz ist auch von Anfang an dabei und wäre er nicht offiziell immer noch mit der Metzgerin verheiratet, hätte er Greta hinter ihrem Haus, dort wo die hellgelben Pfingstrosen meterhoch wachsen und die Frösche laut singen, irgendwann seine Liebe gestanden. Da bin ich mir sicher, aber als Kind kann man auch einiges falsch verstehen.
Das habe ich bei meinem ersten Rahmen gemerkt. Greta war mit strengem Blick hinter mir gestanden.
Rahmen muss man schneiden, leimen und winkeln. Das Schwierigste ist die Rahmenauswahl. Für welches Muster soll man sich entscheiden? Greta ist der Ansicht, dass jedes Bild nach einem bestimmen Rahmen verlangt und dieser etwas leisten muss. Ihre Dialoge mit den Kunden zogen sich manchmal über Stunden, aber das war nichts im Vergleich zu der Dauer, wie lange ihre gerahmten Bilder an Wänden hingen. Der Rekord liegt bei siebzig Jahren, es war ihr erster Rahmen und er hängt beim Schuster im Wohnzimmer. Niemand bis auf Greta weiß, welcher Inhalt gerahmt wurde, aber so ist das mit Geheimnissen. Manche werden sofort ausgeplaudert und manche bleiben siebzig Jahre und sogar nach dem Tod bei dir. Ein Geheimnis ist wohl eine der wenigen Sachen, die man überall hin mitnehmen kann.
Es gibt Holz und Alurahmen. Jedes Stück von Greta ist etwas Besonderes, genau wie sie selbst. Hintergrund, Bild und Glas müssen am Ende zusammengesetzt und im Rahmen befestigt werden. Um das Eindringen von Staub zu vermeiden, wird jede Fuge exakt verschlossen. Gegen Trauer gibt es keinen geeigneten Verschluss. Sie dringt in dich ein und verweilt dort. Ich ahne, dass die Zeit keine Wunden heilt. Es muss Zeit vergehen, damit Schichten über den Schmerz wachsen können, aber er wird immer da sein. Irgendwann unter sehr vielen Schichten, aber immer noch vorhanden. Für ein Kind bin ich zu melancholisch, murmeln die Leute über einer Tasse Tee.
Mein erster Rahmen war sogleich mein letzter Rahmen. Ich hatte den Rahmen fallen lassen und es entstand ein winziger Knacks auf der Längsseite.
Greta meint, dass das eben passiere und dass ein Knacks im Leben dazugehöre. Ich verstehe erst viel später, was sie damit meint.
Wir sollten reingehen, sagt Ignaz und erhebt sich schwerfällig. Er stellt einen Teekessel auf den Herd und ich reibe mir fleißig die Augen, damit nicht noch mehr Wasserfälle daraus fließen können.
Weinen macht einen ziemlich hässlich. Verquollene Augen, eine schrecklich triefende Nase und in meinem Fall ein Gesicht wie ein Erdbeerpfannkuchen. Das Äußere will sich beim Weinen dem Innenleben anpassen.
Ignaz legt eine Schachtel Merci auf den Tisch. Diese schenkt man sich bei uns zu jedem Anlass und jede Packung wird wiederum weitergeschenkt. Greta hatte ihre immer mit einem kleinen schwarzen Punkt auf der Rückseite markiert und gelacht, wenn sie eine über etliche Umwege am Ende wieder zurückbekommen hat. Ich drehe die Packung um und entdecke einen kleinen schwarzen Punkt in der rechten Ecke.
Was denkst du, fragt Ignaz und schiebt sich seine Brille von der Nasenspitze wieder nach oben. Er ist ein Mensch, der oft fragt, woran man gerade denkt und der immer mit seiner Brille beschäftigt ist. Das kann einen überrumpeln, aber auch unheimlich befreiend sein. Vor allem als elfjähriges Mädchen hat man eine Menge Gedanken, die manchmal kaum noch Platz im eigenen Kopf finden.
Schade, dass es mit den Toten nicht so funktioniert, wie mit den Mercipackungen bei uns im Dorf, antworte ich und ihm entfährt ein leises Glucksen.
Das wäre in der Tat schon ziemlich außergewöhnlich, meint er.
Selbst, wenn dein ganzes Leben in einem Rahmen Platz gefunden hat, musst du versuchen, außerhalb diesem existieren zu können.
Ich weiß nicht, ob er das laut sagen wollte, aber sein Blick ist getrübt und ich habe den Verdacht, dass der Gedanke nur ihm gehören soll.
Wir spüren, dass der Tag sich langsam auflöst und dass wir noch eine Sache erledigen müssen.
Ich stopfe vier Merci hintereinander in mich hinein und weil mein Mund nur Traurigkeit schmeckt, kann ich die Sorten nicht auseinander halten. Als der Teekessel pfeift, schleicht Ignaz zu ihm und füllt das heiße Wasser zusammen mit ein paar Kräutern in eine Thermosflasche. Vielleicht kann Tee sogar Traurigkeit mildern. Ich krame in der Vorratskammer nach der knallroten Decke, dem rostigen Fernrohr meines Vaters und einem Glas Kirschmarmelade.
Wir laufen durch den Wald hinterm Haus bis zu einer Lichtung, die auf jeden Fall magisch ist. Dort schlagen wir unser Lager auf. Wir trinken Kräutertee und löffeln mit unseren Fingern Marmelade direkt aus dem Glas. Irgendwann werden wir ein Eichhörnchen sehen und können den Tag beenden.