„Terrasse mit Meerblick“ von Adi Traar

 

6 Stunden stehen im Führer, tatsächliche 8 ½ mir jetzt in die Beine geschrieben. Es ist immer das Gleiche. Warum nur ziehe ich Toureninformationen aus dem Internet zurate? Diese selbst ernannten Weg- und Gehzeitenexperten, die ihr Ego ins Netz speisen, es mit angeblich erbrachten Leistungen aufpolieren oder ausführlich schwelgen im Da-wo-ich-grad-bin-ist-es-am-schönsten.

Aber jetzt wirklich. Da, wo ich grad bin, ist es am schönsten! Die bizarren, scharfkantigen Lavahervorbringungen in 5 Stunden durchschritten, wie mit Messer und Gabel geschnetzelte, versteinerte Knetmasse; dann 2 Stunden lang den karg bewachsenen Küstengürtel gequert, den aggressiven Angriffen der Küstenseeschwalben ausgesetzt – die haben mich auf ihren Tiefflügen mit ekligsten Körperausscheidungen bombardiert, Kopf und Gewand sind voll davon, von ihren scharfkantigen Schnäbeln wurde ich zum Glück verschont –, und nun also der schönste Platz ever, ein Sandstrand mit höhenversetzten Terrassen, von Fels durchzogen. Ein Platz, der meinen Romantikansprüchen vollauf genügt. Da gehört in jedem Fall Wassergeblubber dazu. Die Wellen schlagen an gegen die Schäreninselchen, behände und periodisch wiederkehrend, sie lassen mich ins Wiegen hineinfühlen, so wie ich einst gewiegt wurde, wie wir tunlichst alle gewiegt wurden. Wenn das kein passendes Schlummerprogramm sein soll! Pures Wunschkonzertgetön!

Ich feilsche um Zentimeter, je näher dem Wasser, desto forcierter der Volume-Regler fürs Wunschkonzert, er braucht nicht nachjustiert zu werden, mein Hörwunsch prasselt auf mich ein, in mich hinein, lebt mich in eine Nacht der Wünsche, so zu zitieren. Also, ran ans Meer, was der Aufbauplatz hergibt, nur die beste Lage zählt, gebare ich mich wie ein Immobilienhai. Die Liegefläche der Liegenschaft soll schon Liegefläche bleiben, sprich möglichst horizontal; der Kopf höher als das Übrige, mehr denn eine einzige Schlafposition sollte drinnen sein, ohne dabei seitlich abzudrehen oder sich mit bulligem oder gar scharfkantigem Gefels (hier ist wohl alles scharfkantig) matchen zu müssen; der Platz sollte auch frei von Vertiefungen sein, die erzeugen körperliche Durchhänger, mentale könnten folgen. Erst muss die Parzelle von allerhand Glitschzeug gesäubert werden, Wasserpflanzen, Farne. Auch Schafe scheinen den Platz zu schätzen, laut ihrer haufenweise hinterlassenen, biologischen Visitenkarten.

Die Räumarbeit ist getan, es hat sich mehr als gelohnt. Eine mondäne Terrasse mit Meerblick, was heißt Meerblick, Tuchfühlung mit dem Meer, dem hier offenen Nordmeer, so wie es sich wohl seit Menschengedenken zeigt. Nur der Öltanker, der schon einige Zeit am Horizont rastet oder an etwas laboriert, entreißt mich der Illusion vom ewiglichen Gleichen, dass es etwas gibt, das für immer so bleibt, wie es einmal war. Genauso das blasse Glühwürmchen am Himmel, von dem ich nicht sagen kann, ob es ein launischer Stern oder ein Satellit ist. Mein Zelt, das dem allen vorsteht, ist ja auch nicht gerade ein biblisches Immerdar.
Morgen schon ist es weg.

Der Schlaf spielt sich wie erwartet ab. Die vertrauten Naturlaute werden bereichert durch unweit auf einem Vogelfelsen fagottierende Basstölpel. Nur der Volume-Regler des Wellenschlags, welcher mich ins Wiegen hineinfühlen lässt, dreht, wie von Mondhand reguliert, immer weiter auf. Das nehme ich in einem tumben Zustand zwischen ¾- und Vollschlaf wahr – hingegen das Wasser, das in kleinen Lacken bereits an meinem Schlafsack nuckelt, erlebe ich in einem Wachzustand seltsamer Art; genauso den plötzlich gefluteten Vorgarten, jenen Puffer zwischen Zelt und Meer, welchen ich in meiner Aufbauwut möglichst knapp gehalten hatte; und den Fischer, der mich einen Angelwurf entfernt stumm beobachtet. Er reagiert überhaupt nicht auf mich und meine Not, er und seine Fische sind sich wohl am nächsten. Ist er schon länger da und hat darauf gewartet, was zu erwarten war? Wieso hat er mich nicht gewarnt? Bin ich Hauptdarsteller seines privaten Realityshow-Abendvergnügens? Oder bin ich für ihn gar tragischer, di-capriöser Held aus einem Schiffbruch-Katastrophenfilm?

Eilig packe ich mein bereits feuchtes Zelt zusammen, lasse Schlafsack, Matte darin und schaffe es in die nächsthöhere Etage. Es könnte frühmorgens sein, ich habe keine Ahnung, die Mitternachtssonne geizt mit chronologischen Auskünften. Ähnliche zeitliche Auskünfte wären auch von Nutzen gewesen, um dieser Flut nicht auf den Leim zu gehen. Das ewig Gleiche, in das ich mich gerade noch hineingesponnen habe, hat ihre Auszucker, Abweichungen von der Norm: Gezeiten! Das Meer auf Wanderschaft. Gewissermaßen sind Gezeiten die Gehzeiten des Meeres. Was soll’s. Höchstens vier, fünf Stunden noch, und das Wasser sollte dahin sein.

Ich bin in der rettenden obersten Etage angelangt, dem Oberdeck sozusagen. Keinerlei Meeresrückstände sind hier zu sehen, ich werde wohl trockene Füße behalten und der drohenden Katastrophe entkommen. Aber die Wellen gehen nicht zurück, im Gegenteil, sie werden heftiger, fressen sich immer weiter vor, erobern Land um Land, Fels um Fels, erreichen schließlich die Terrasse unter mir. Vom Bewuchs her kann sie keinesfalls in der Flutzone liegen, bunte Blumen pochen hier auf beständige Bodenverhältnisse. Das Meer scheint das nicht zu bekümmern, langsam flutet es das Gras und ertränkt die Blumen; ihre Köpfe wiegen sich im Strudel hin und her, wie Notsignale von bunten Wimpeln. Immer höher steigt der Wasserspiegel, kriecht zu mir herauf. Der Bedrohung von unten folgt eine von oben, der Himmel, jetzt in eisblauen, geometrischen Formen zersplittert, scheint sich auf mich herabzustürzen. Ich realisiere einen riesigen Eisberg, wie er knarzend versucht, vor mir auf die Küste aufzulaufen. In seinem Schatten taucht jetzt wieder der Fischer auf. Er treibt auf dem Wasser, klammert sich an eine hölzerne Wandverkleidung. Er trägt ein Diamantcollier, die Steine funkeln bis zu mir herüber. Daneben schwimmt ein Tresor mit Schweißloch, langsam füllt er sich mit Wasser und versinkt. Hiermit wäre die Herkunft des Colliers auch geklärt. Der Fischer ruft mir etwas zu, ich verstehe es kaum, er liegt (eigentlich: treibt) in seinen letzten Zügen, ruft zu mir herüber, ich solle ihm versprechen, mich nicht dem Schicksal hinzugeben, sondern meine ganze Kraft aufzubieten, mich zu retten, um noch ein langes, erfülltes Leben zu haben. Das ergreift mich, etwas ergreift mich und schüttelt mich ordentlich durch.

Ich reiße die Augen auf. Meine Füße sind klamm. Scheiße, der Schlafsack ist nass. Ein Mann zerrt an meinen Schultern, es ist der Fischer. Stand up, stand up! Here comes the flood!
Ich befinde mich in einem Wachzustand der seltsamen Art. Eilig packe ich mein Zelt zusammen, lasse Schlafsack, Matte darin und schaffe es in die nächsthöhere Etage. Es könnte frühmorgens sein, ich habe keine Ahnung, die Mitternachtssonne geizt mit chronologischen Auskünften …

 


 

Adi Traar ist 1960 in Graz geboren, war Solooboist bei den Grazer Philharmonikern und lehrt an der Kunstuni Graz. Als Autor ist er ein Spätberufener, erstes Schreiben führt ab 2011 zur Veröffentlichung von Reiseerzählungen. Adi Traar wurde mehrfach für sein literarisches Schaffen ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis Irseer Pegasus oder dem Literaturpreis der Stadt Feldbach. 2020 erreichte er mit seiner Kurzgeschichte „Abdriften“ bereits den 2. Platz bei WortReich. 

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