2. Platz WortReich 2019: „Wenn die Stille sich verändert“

Text: eingereicht von Oliver Graf für den Kurzgeschichtenwettbewerb WortReich 2019 | 29.11.2019

Wie ein Greis schleppte sich das erste Sonnenlicht des Tages über den Hang. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis das Glitzern auf den tauschweren Wiesen die Hütte erreichte. Wandertouristen hätten das Naturschauspiel bestaunt, aber Veith war es egal. Er saß auf der Bank, einen Becher gewärmter Milch in der Hand, in den er einen Kanten trockenen Brots tunkte. Noch war es kühl, Veith trug seine zerschlissene Joppe, und er vermutete, es würde selbst im Laufe des Tages kaum wärmer werden.
Die Sonne hatte ihre Kraft verloren. Das Jahr war alt geworden.
Er saugte die Milch aus dem Brot und knabberte ein Stück ab.
Die meisten Almen der Gegend waren schon verlassen, Wanderer erwartete er keine mehr.
Ja, das Jahr war alt geworden, Licht und Schatten unscharf. Kein Vergleich zu den Monaten der Hitze, als die Sonne selbst hier oben danach zu trachten schien, alles zu versengen, als das Licht grell und Schatten wie schwarze Mäntel waren. Nun aber, die Schatten seines Bechers, seiner Hand, des Brotes, alles nicht viel mehr als dunkelgraue Schleier.

Wie Schatten am Licht klebt, dachte Veith, als er sein Brot mümmelte, wie sie aneinanderhängen, unfähig einer ohne den anderen zu sein. Fast wie bei Leni und ihm. Erhielt der Schatten nicht nur durch das Licht seine Kraft, seine Form? Und verschwanden bei Dunkelheit nicht beide? Denn es war kein Sieg des Schattens über das Licht, wenn sich die Nacht über die Berge senkte, sondern es war ihr beider Untergang.

Fast wie bei Leni und ihm.

Sie hatte ihm Kraft gegeben, hatte ihn zu dem gemacht, was er sein konnte, sein wollte. Stand er in ihrem Schatten? War er geschrumpft, verschwunden, wenn das Licht hell über ihr stand? Wie auch immer, er war bei ihr gewesen, die ganze Zeit. Es war ihm, als hätte sie ihn erschaffen und nun sie ließ ihn wieder verschwinden.

Leni.

Den letzten Schluck Milch trank er aus. Aufgeweichte Brotkrümel spülten durch seinen Mund. Den Becher wusch er im Brunnen hinterm Haus, die nassen Finger wischte er an der Hose trocken. Noch einmal hielt er inne, betrachtete die Sonne, betrachtete die Schatten, die langsam kürzer wurden. So war auch er in seiner Liebe versunken.

Wütend trat er auf. Was für lächerliche Gedanken über Schatten und Licht? Er brachte den Becher in die Hütte, zog die Joppe aus und hängte sie an einen Haken. Bald würde ihm warm werden.

Aus dem Schuppen, der an die Hütte gebaut war, holte er Schaufel und Krampen.

Sie hatten den Platz schon lange gewählt. Oft waren sie hier gewesen, hatten sich auf die Fläche unter den Bäumen gelegt und nach oben geblickt. Leni hatte den Boden betastet, hatte Halme abgerissen und daran gerochen.

„Hier ist es gut“, hatte sie gemeint.

Jetzt stand er an der Stelle, an der sie so oft mit dem Blick in die Zweige und den Himmel gelegen waren. Schweigend meistens, aber ihre Hände hatten sich berührt und dieser zarte Kontakt war für ihn das Leben gewesen.

Er hob den Krampen in die Luft und ließ ihn niederfahren. Die Spitze bohrte sich tief in die Erde.

Sie hatte recht gehabt. Untypisch für die Höhe war die Erde hier weich, der Boden locker. Es war ein guter Platz. Er hackte und grub, grub und hackte. Nach weniger als zwei Stunden nickte er zufrieden und ging zurück zur Hütte.
Er war verschwitzt und wusch sich. Er wechselte das Hemd, knöpfte es zu bis zum obersten Knopf.

Gut eine Stunde später war es soweit, es mochte etwa Mittag sein. Die Tage waren schon so kurz …

Er hatte den Sarg, den er in den letzten beiden Tagen gezimmert hatte, geholt. Behutsam hatte er den Leichnam aus der Stube getragen und samt Laken hineingelegt. Er hatte es sich schwerer vorgestellt, den Sarg nach oben zu schaffen, an die Stelle.

Sie hatten beide gewusst, dass sie früher gehen würde als er. Einerseits sei sie dankbar, hatte sie gemeint, denn dann müsste sie ihn nicht vermissen, andererseits tat es ihr leid, weil sie ihn allein zurückließ. Und natürlich hätte sie so gerne noch mehr Zeit mit ihm gehabt. Tränen waren ihr in den Augen gestanden, aber er hatte versucht sie zu beruhigen und versichert, er würde das schon schaffen. Die Tränen hatte er vergossen. Heimlich, wenn sie ihn nicht sah.

Vor drei Tagen war er aufgewacht und sofort hatte er gewusst, dass sie tot war. Die Stille der Berge war eine andere. Er hätte es nicht anders beschreiben können.

Und nun stand er vor dem Grab, blickte in das Loch, auf die Holzbretter und wollte es nicht wahrhaben, dass sie dort lag. Bisher hatte er mechanisch gearbeitet, hatte etwas zu tun gehabt, nun aber im Moment des Abschieds, packte ihn der Schmerz auf so brutale Weise, er glaubte zu ersticken. Er hob den Blick, sah durch die Zweige in den Himmel.

Gewusst hatte er, dass der Augenblick des Schmerzes kommen würde, aber vorbereitet war er darauf nicht.
Die Zweige über ihm wogten in ihrem Tanz aus Licht und Schatten.

Ihre schneeweiße Haut, von der er immer gedacht hatte, sie würde strahlen. Selbst in der Nacht war sie zu sehen gewesen. Und er selbst? Veith? Er war in der Nacht unsichtbar. Sie hatten ihn hierhergeholt und mit einem neuen Namen versehen. Hier, in dieser so viel besseren Welt, so hatten sie ihn immer glauben machen wollen. Besser ja, wenn die Hautfarbe stimmte.

Während des Heranwachsens war es am schlimmsten gewesen, aber er hätte auch nicht sagen können, ob die Hänseleien und Beleidigungen danach weniger oder nur seine Abgestumpftheit stärker geworden waren. Seine Eltern hatten es gut gemeint, aber sie hatten ihn nicht beschützen können. Und wie oft dachte er an das Land, aus dem sie ihn geholt hatten?

Aber Leni hatte ihn genommen und geliebt, sie hatte ihn hierhergeführt, erst nur einen Sommer über, dann noch einen, und einen weiteren, bis der Sinn verschwand, wieder ins Tal zurückzukehren. Hier war ihre Welt, und die Ruhe und Kraft der Berge schien Unterschiede aufzulösen. Hier war er zuhause wie alle. Hier gab es keine Vorurteile und keinen Hass, höchstens Erstaunen, aber das war gleich wieder vorbei.

Licht und Schatten, waren sie geworden. Eine Einheit. Aber was tun, wenn das Licht erlischt?

Er setzte die Schaufel an. Schwarze feuchte Erde polterte auf das Holz, aber er dachte noch immer das Strahlen durch die Bretter und die Erdklumpen zu sehen.

Was tut der Schatten, wenn das Licht erlischt?
Auch er versinkt in endloser Dunkelheit.

Aber nein, das war es, was sie nicht gewollt hatte. „Versprich es mir“, hatte sie von ihm verlangt, „versprich mir, dass du für uns beide lebst.“ Sie hatte seine Hand fester gedrückt und er würgte an seiner Trauer. „Wir sind eine Einheit – und das bleiben wir.“

Mit der Rückseite der Schaufel schlug er die Erde glatt. Wie gerne hätte er sie noch einmal gehalten. Wie lange war es her, dass er sie aus der Stube getragen hatte? Er glaubte noch ihren Körper auf seinen Armen zu spüren.

Stunden später saß er auf seiner Bank. Die Schatten wurden länger und länger. Er legte den Kopf zurück an die Holzwand der Hütte, schloss die Augen, und alles, was er sah, war Licht.

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